Alpine
Alpine-Renault A110

Französische Plastikflunder für Hartgesottene.

Bruno von Rotz
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Alpine-Renault A 110 1600 S (1972)

Alpine-Renault A 110 1600 S (1972)

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Es ist dunkel, man hört nur das Murmeln von ein paar Menschen. Plötzlich ertönt ein Geheul, ein Knurren, ein Gefauche. Vier Scheinwerfer bohren sich in die Nacht. Im Scheine der Lampen sieht man eine flache blaue Flunder wie wild um die Kurven der Sonderprüfung tänzeln, das Heck weit heraushängend, die Räder nach Traktion suchend. Dann ist der Spuk vorbei. So oder ähnlich muss es sich für die Rallye-Zuschauer im Jahre 1971 angefühlt und angehört haben. Es war das Jahr der Alpine A 110 1600 S, es endete mit dem Gewinn der Rallye-Weltmeisterschaft.
In eine Alpine A 110 steigt man nicht ein, man wirft sich hinein: Türe auf, rechtes Bein unter das Lenkrad einfädeln, das Gesäss in den Sitz fallen lassen, links Bein nachziehen. Bis zu 1,8 Meter grosse Zeitgenossen finden (sogar mit Helm) gut Platz in der Berlinette, für grössere Menschen wird es eng. Die originalen Schalensitze lassen sich nur in der Längsrichtung verstellen, wer also anatomisch nicht passt, sollte die Finger von der Alpine lassen.
Jetzt den Schlüssel im Zündschloss - besorgniserregend nahe am Fahrerknie liegend - drehen und los geht das Brummen, Vibrieren und Lärmen. Selbst mit strassentauglichen Schalldämpfern wird die Alpine schnell laut im Innenraum. Und der Lärm ist bei den vom Renault 16 TS stammenden Motoren nicht wirklich melodiös. Im Bereich von 2’000 bis 3’000 Umdrehungen ertönt zwar ein durchaus nicht unattraktives Raspeln, darüber ist es eine unschöne Kakophonie, die aber trotzdem süchtig macht, denn man fühlt sich bereits im Stand fast wie bei der «Nacht der langen Messer» des Rallye Monte Carlo.
Hohe Ansprüche an den Fahrer setzt eine strassenverkehrsordnungs-tauglich bewegte Alpine nicht. Das Fünfgang-Getriebe lässt sich recht gut schalten, wenn auch die unteren Gänge nahe bei einander liegen und der fünfte etwas mehr Aufmerksamkeit verlangt, genauso wie der Rückwärtsgang, wenn er denn benötigt wird. Kupplung und Bremse verlangen keine Bärenkräfte und dank des geringen Gewichts von gut 700 kg kommt man überaus flott voran.
Komfort sollte man bei der Alpine nicht erwarten. Neben den dröhnenden Laufgeräuschen erinnert die harte Federung fortwährend an die Nähe zum Wettbewerbsfahrzeug. Die geringen Aussendimensionen lassen es erahnen, mit 3,85 x 1,46 x 1,13 Metern (Länge/Breite/Höhe) sind die Platzverhältnisse auch im Innern bescheiden und auch der Schalthebel muss des öfteren am Knie des Beifahrers vorbeigezirkelt werden. Gespräche im Innenraum sind nicht zu empfehlen, es sei denn, man ist bereit zu schreien. Dies ist auch bei Renntempo dank der Nähe zwischen Fahrer und Beifahrer noch möglich und man begreift, dass eine Helm-Funkeinrichtung vor 40 Jahren noch nicht unbedingt nötig war. Positiv sind die ausklappbaren hinteren Scheiben, eine beheizbare Frontscheibe, halbdurchsichtige Sonnenblenden und die vollständige Bestückung des Armaturenbrettes zu nennen, diese Dinge bedeuten funktionalen Komfort.
Komforteinbussen nimmt man in Kauf, wenn das Ergebnis, in diesem Fall die Fahrleistungen, stimmt. 9.5 Sekunden nahm sich die Alpine A110 1600 S im Test der Automobil Revue von 1971 für den Sprint von 0 auf 100 km/h, Auto Motor und Sport schaffte es 1972 dann in 7,3 Sekunden. Bei der Höchstgeschwindigkeit brachten es die AMS-Fahrer auf 220,9 km/h, während die AR-Tester maximal 217 km/h aus der Berlinette rausholen konnten. Dafür lief die AR-Alpine mit 11,7 Litern Gesamtverbrauch sparsamer als die AMS-Version, die sich 14,4 Liter im Schnitt genehmigte. Mit 781 kg war die in der Schweiz geprüfte Alpine übrigens leichter als die vollgetankt 820 kg wiegende Version aus Deutschland.

Man führe sich das einmal vor Augen, für DM 22’900 oder 28’300 Franken konnte man ein Fahrzeug kaufen, das einem Porsche 911 S (immerhin mit 31’150 DM auf der Preisliste) kaum nachstand, wenn man einmal von der nachlässigen Verarbeitung und der eingeschränkten Nutzbarkeit absah. Noch besser als die Strassen-Alpine ging natürlich die Rennversion von 1971 mit rund 160 PS und 685 kg Gewicht, die mit der kurzen Bergübersetzung in 6,4 Sekunden von 0 auf 100 km/h beschleunigte.
Die damaligen Testberichte legen es offen, das Fahrverhalten, beeinflusst durch die Pendelachse, war gewöhnungsbedürftig. Der hoch angesiedelte Grenzbereich konnte sich in einem nur mit schnellem Gegenlenken parierbaren heftigen Übersteuern ankündigen. Zudem war die Alpine wegen der Heckmotorbauweise seitenwindempfindlich und verlangte nach erhöhter Konzentration des Fahrers. Nichts auszusetzen hatten die Testfahrer an der Bremsanlage. Die Schlussworte von AMS-Tester Klaus Westrup fassen es nochmals zusammen: «Es gibt bei nüchterner Betrachtung nicht sehr viele Argumente, die zum Kauf des Alpine anreizen könnten. Denn er ist ja nicht nur teuer, sondern auch schlecht verarbeitet, pflegebedürftig, hart und laut. Man kann es aber auch anders sehen: Wer den Alpine als strassentauglichen Rennwagen betrachtet, kann ihm einen günstigen Preis und brauchbaren Komfort attestieren.» Wie immer kommt es halt auf den Standpunkt an.
Begonnen hatte alles mit Jean Rédélé, einem umtriebigen Tüftler aus Dieppe, der schon früh mit dem Renault 4CV bei Rallyes und Rundstreckenrennen antrat. Er wusste genau, welche Art Fahrzeuge er bauen wollte. Die Basis sollte der 4CV sein, aber die Karosserie musste aus Kunststoff sein und das Ergebnis ein richtiger Sportwagen werden. Über den A-106 und den A-108 entstand Form und Konstruktion des A 110. Das Design entstand im eigenen Hause und es war Platz für die Aufnahme der neuen grösseren R8-Motoren vorhanden.
Die gleichzeitig leichtgewichtige und steife Kunststoffkarosserie wurde bei der Alpine mit einem Zentralrohrrahmen verklebt, vorne kamen Einzelradaufhängungen zum Einsatz, hinten eine Pendelachse, welche ab 1973 durch Einzelradaufhängungen an Querlenkern ersetzt wurde. Der Motor von Renault befand sich im Heck, also hinter der Hinterachse. Auch andere Länder produzierten die Berlinette, Brasilien, Spanien (Renault-FASA), Bularien, und Mexiko (Willys Interlagos) stellten das flache Coupé in Lizenz her.
Der Palmares des 1600 S ist gross, Hunderte von Rallye-Siegen und vordersten Plätzen, aber auch auf der Rundstrecke, bei Bergrennen und bei Slaloms war die Berlinette erfolgreich. Wichtige Siege schauten unter anderem bei der Rallye Monte Carlo, bei der Akropolis-Rallye und bei der Österreichischen Alpenfahrt heraus, aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Die berühmtesten Alpine-Treiber waren Jean-Claude Andruet, Bernard Darniche, Jean-Pierre Nicolas und Jean-Luc Thérier, eine wilde Truppe, die oft das Unmögliche möglich machte. In den späten Sechziger-Jahre waren die eingesetzten Fahrzeuge noch nahezu identisch mit den Serienfahrzeugen, erst ab 1970 wurden kleinere und grössere Verbesserungen in die Rallye-Wagen eingebaut und die Motoren auf höhere Leistung getrimmt. Beliebt waren vor allem die Triebsätze von Mignotet, der den Fokus auf Fahrbarkeit und nicht das allerletzte PS setzte. Mignotet war ein Besessener, der 20 Jahre nie Ferien machte und seine Motoren immer weiter verbesserte. In den Jahren ab 1974 wurden im Rennsport auch 1800 cm3 grosse Motoren mit bis 170 PS eingesetzt, bereits ab 1972 fiel manche Alpine durch massige Kotflügelverbreiterungen auf, aber das Gros der Rallye-Autos von Alpine sah fast aus wie die Fahrzeuge, die Amateure und Sportwagen-Liebhaber ab Stange kaufen konnten.
Ein spezielles Kapitel ist der Alpine Turbo, 200 bis 240 PS stark, mit dem Jean-Luc Thérier das Critérium des Cévennes gewinnt. Der Wagen war äusserst schwer zu beherrschende und nur ein Fahr-Genie wie Thérier war in der Lage, das Fahrzeug auf der Strasse zu halten. Die Technologie wurde denn auch nicht sofort weiterverfolgt und erst später wieder aufgenommen
Seit Jahren sind die Preise der verbliebenen in Frankreich gebauten Alpine A 110, von denen immerhin rund 7’500 Stück gebaut wurden, im Steigflug, beliebt und gesucht sind vor allem die S- und Gordini-Typen, reinrassige Rennwagen mit zeitgenössischem Erfolgsausweis sind fast unbezahlbar. Eine originale Gruppe-3- oder Gruppe-4-1600S-Alpine kann durchaus eine sechsstellige Franken-Summe kosten. Restaurationen sind vergleichsweise unkompliziert und auch die Motoren können günstig revidiert werden, solange es sich nicht um Spezialitäten von Gordini oder Mignotet handelt. Trotz dem steigenden Wert werden die Berlinettes auch heute noch gerne im Rennsport und in historischen Rallye-Veranstaltungen eingesetzt und durchaus flott bewegt.
Weitere Informationen, viele Bilder, Originalprospekte und technische Daten zur Alpine A 110 finden sich auf www.zwischengas.com.