Zurzibiet
Als sich Waldshut noch gegen Einkaufstouristen wehrte

Der fehlende Ansturm am Wochenende nach dem Aus für den Euro-Mindestkurs enttäuschte die deutschen Detailisten. Doch dem war nicht immer so: Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Deutschen den starken Franken nicht.

Nadja Rohner
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Die Waldshuter Altstadt am Freitag nach dem Aus für den Euro-Mindestkurs: Alles ruhig.

Die Waldshuter Altstadt am Freitag nach dem Aus für den Euro-Mindestkurs: Alles ruhig.

Samuel Buchmann

Der prophezeite Sturm auf die Regale war letztlich ein laues Lüftchen: Am ersten Wochenende nach dem Aus für den Euro-Mindestkurs reisten nicht signifikant mehr Einkaufstouristen nach Waldshut. Der eine oder andere deutsche Detaillist dürfte enttäuscht gewesen sein, ist doch bekannt, dass die süddeutschen Geschäfte bis zu 40 Prozent ihres Umsatzes mit den Schweizern machen.

Allerdings: Dass Schweizer Einkaufstouristen in Waldshut gern gesehene Gäste sind, war nicht immer so. Im Gegenteil: Man befürchtete, die Eidgenossen könnten den Einheimischen wortwörtlich die Butter vom Brot nehmen.

Letztes Jahrhundert, 20er-Jahre. «Die Verhältnisse an der Nordgrenze unseres Kantons, wie überhaupt die Zustände an der deutschschweizerischen und deutsch-österreichischen Grenze, geben seit einiger Zeit hinsichtlich des ‹kleinen Grenzverkehrs›, das heisst des Verkehrs der Grenzanwohner untereinander, zu schweren Besorgnissen Anlass», schrieb das «Aargauer Tagblatt» im November 1921. Zustände, die laut kantonalem Gewerbeverein «allen Begriffen über den Schutz nationaler Arbeit und Produktion Hohn sprechen» – der Einkaufstourismus erlebte eine Blütezeit. Der Grund: Seit Beginn des Ersten Weltkrieges hatte sich im Deutschen Reich die umlaufende Geldmenge vermehrt. Die Kriegsniederlage 1918 blähte den Währungsballon weiter auf. Dann kamen 1921 die Reparationsforderungen der Alliierten, die Inflation beschleunigte sich nochmals – gegenüber dem Franken war die Mark kaum noch etwas wert.

Klar, dass die Zurzibieter schon damals oft zum Einkaufen über die Grenze gingen. Gerne benutzten sie dazu die Rheinfähre zwischen dem Fuller Ortsteil Jüppen und Waldshut. Die Waldshuter aber, vom Krieg immer noch gebeutelt, waren darüber gar nicht begeistert, wie dem Buch «Die Geschichte der Waldshuter Rheinfähre» zu entnehmen ist.

Frühling 1922. In Waldshut fürchtete man, dass die Zurzibieter mit ihrer harten Währung die Regale im Städtchen leerkaufen und für die Einheimischen mit ihrer serbelnden Mark nichts übrig lassen könnten. Um dem entgegenzuwirken, verhängte die Stadtverwaltung flugs Sperrlisten für bestimmte Waren – wichtige Güter des täglichen Bedarfs wie Milch, Käse, Schokolade, Speck, Obst und Wein. Zudem führte sie die «Frankenabgabe» ein: ein Auslandszuschlag von drei Franken pro 100 Mark Warenwert.

Im März 1920 waren die Fährpreise erstmals fast verdoppelt worden: Zehn Rappen pro Einzelfahrt für Schweizer, zehn Pfennig für Deutsche. Da aber der Rappen deutlich mehr Wert war als der Pfennig, fühlten sich die Schweizer benachteiligt.

Die Fähre war für die Zurzibieter enorm wichtig, gingen sie doch in Waldshut nicht nur einkaufen, sondern auch zum Arzt, in die Kirche oder in Vereine. Die Gemeinde Full intervenierte deshalb schriftlich bei der Stadt Waldshut, die noch heute die Fähre betreibt – vergeblich. Besonders zu leiden hatten zehn Zurzibieterinnen, die in einer Waldshuter Seidenweberei arbeiteten und den Lohn in Mark erhielten, den Fährpreis aber in Franken zahlen mussten.

Im Frühjahr 1922 verdoppelte Waldshut die Fährtaxe erneut – dieses Mal aber nur für Schweizer. Diese Kröte wollten die Aargauer nicht schlucken. Sogar die kantonale Baudirektion schaltete sich ein: Sie schrieb an die deutschen Behörden, dieses Vorgehen sei «mit den bisherigen Grundsätzen des Grenzverkehrs und der Gleichberechtigung hüben und drüben nicht vereinbar». Das beeindruckte den Waldshuter Stadtrat jedoch herzlich wenig: «Wir haben gar kein Interesse daran, auch noch durch billige Fährtaxen den Schweizern zu erleichtern, zu uns herüberzukommen und uns für einige lumpige Franken, für die sie Hunderte von Mark bekommen, die besten Sachen wegessen und wegtrinken und die notwendigsten Bedarfsartikel wegkaufen, uns bis ins Ungemessene verteuern zu lassen», schrieb er der Aargauer Regierung zurück.

Andreas Weiss, der Autor des Rheinfähren-Buches, ordnet diese harsche Reaktion so ein: Der raue Ton mache deutlich, dass angesichts schwieriger politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse die grenzüberschreitenden Beziehungen rasch nationalen Interessen untergeordnet wurden.

Währenddessen wurde Waldshut vollends von der Inflation überrollt. Die Fährpreise nahmen absurde Grössen an: Im November 1923 kostete eine Überfahrt 50 Milliarden Mark – für Deutsche. Schweizer zahlten erneut zehn Rappen. Dann stabilisierte sich die deutsche Währung wieder. Ab Oktober 1924 gehörten Sperrlisten und Frankenabgaben der Vergangenheit an – die Schweizer konnten in Waldshut wieder ungehindert ihrer Einkaufslust frönen.