Essstörungen
Zofinger Chefärztin: «Essen ist eine Strategie, die immer wirkt»

Chefärztin Bettina Isenschmid ist im Spital Zofingen täglich mit Patienten konfrontiert, die unter Essstörungen leiden.

Katrin Freiburghaus
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Chefärztin Bettina Isenschmid ernährt sich selber vegetarisch.

Chefärztin Bettina Isenschmid ernährt sich selber vegetarisch.

Mehr als 800 Personen sind im vergangenen Jahr im Kompetenzzentrum für Essverhalten, Adipositas und Psyche im Spital Zofingen wegen einer Essstörung behandelt worden. Zwei Drittel der Betroffenen sind übergewichtig, ein Drittel sind magersüchtig oder leiden an einer Bulimie. Chefärztin Bettina Isenschmid über Ursachen, Trends und Entwicklungen.

Wie ernähren Sie sich persönlich?

Ich lege gerne offen, dass ich Vegetarierin bin, und zwar seit dem Teenageralter. Auf dem Bauernhof meiner Grosseltern habe ich miterlebt, wie Schweine und Hühner geschlachtet wurden. Das war mein Auslöser. Ich esse aber weiterhin andere tierische Produkte, wie Milchprodukte oder Eier.

Vegetarische, aber auch vegane Ernährung liegt im Trend – kann man sich auf diese Art und Weise überhaupt ausgewogen ernähren?

Der Vegetarismus trägt dazu bei, dass sich die Leute gesünder ernähren, indem sie mehr Früchte und mehr Gemüse zu sich nehmen. Auch aus umweltökologischen und politischen Gründen ist es gut, nicht zu viel Fleisch zu essen. Bei den Veganern ist das Problem, dass das für uns wichtige Vitamin B12 ausschliesslich in tierischen Produkten vorhanden ist. Ein erwachsener, gut informierter Mensch kann seine Diät unter anderem mit Hefe und Sauerkraut aufbessern. Babys und Kinder sollte man aber nicht vegan ernähren. Das Risiko, dass sich ein Eisen- oder Vitamin B12-Mangel mit zum Teil schweren Entwicklungsstörungen zeigt, ist zu gross. Sicher ist: Jede Art von Übertreibung deutet in der Regel darauf hin, dass mit dem Essverhalten etwas nicht stimmt.

Immer mehr sind auch Männer von Essstörungen betroffen. Weshalb?

Auch Männer orientieren sich in den Sozialen Medien viel stärker als früher an einem Körperideal. Es ist ein Wetteifer, dass man einander Bilder davon schickt, was man isst oder von den Übungen, die man macht. Sehr viele Plattformen machen Druck, sich zu vergleichen, was problematisch ist. Für junge Menschen ist es zunehmend schwieriger, einen selbstbestimmten Weg zu gehen.

Essstörungen: im Zentrum des Lebens

Von einer Essstörung wird gesprochen, wenn das Essen oder Fasten als Problemlöser ganz ins Zentrum des Lebens gerückt ist und die anderen Wahrnehmungen und Bedürfnisse verdrängt. Oft haben diese Personen kein verlässliches Sättigungs- und Hungergefühl mehr. Umso mehr stützen sie sich auf Kalorienangaben ab oder stellen strikte Essregeln auf. Dieses kontrollierte Essverhalten kann umkippen in Momente ungeregelter Nahrungsaufnahme, die mit einem quälenden Gefühl von Kontrollverlust einhergehen. Ob jemand an Unter- oder Übergewicht leidet, wird mittels BMI (Gewicht dividiert durch die Körpergrösse in m²) bemessen. Normalgewichtig ist, wer einen Wert zwischen 18,5 und 25 kg/m² erreicht.

Nach welchem Schönheitsideal streben Mann und Frau heute?

Muskulös, gut modelliertes Muskelrelief, aber schlank – dieser Trend hat uns vor einigen Jahren erreicht. Und auch, dass weder Pubertät noch Schwangerschaft oder Wechseljahre Spuren hinterlassen sollten. Das ist ein absoluter Irrsinn.

Durchtrainiert und schlank: Welchen Einfluss hat das heutige Schönheitsideal auf die Ernährung?

Wir richten unser Ernährungs- und Bewegungsverhalten stark nach äusseren Modellen. Schon als Kind schauen wir, was die Eltern essen. Wenn es in Richtung einer Krankheit geht, ist es wichtig, welche Bilder uns dargeboten werden. Models, die in den Medien kursieren und Preise gewinnen, Spitzensportler, die als Schönheitsideale dargestellt werden – das entfaltet eine immense Wirkung. Wir unterliegen dem aber nicht gleich, sonst hätten wir alle eine Essstörung. Die Bilder wirken stärker auf Menschen, die ein zerbrechliches Selbstwertgefühl haben. Tiefer verantwortlich dafür sind negative Lebensereignisse wie etwa Missbrauchs- und Gewalterfahrungen. Das Modellbild ist also nicht Ursache, sondern Auslöser.

Die Zahl an Erkrankungen steigt in den Industrieländern weiter an. Worauf ist das zurückzuführen?

Unser Organismus ist darauf programmiert, bei jeder Gelegenheit Nahrung zu sich zu nehmen. Das ist nicht primär falsch. In der Steinzeit hätte man keine Jogger angetroffen. Bei diesem knappen Nahrungsangebot wäre es unsinnig gewesen, freiwillig Energie zu verpuffen. Dieses Survival-Programm haben wir noch immer intus. Doch die Umgebung hat sich radikal verändert. Wir müssen uns nur minimal bewegen, um Essen zu beschaffen. Das Essen ist eine Strategie, die immer wirkt. Essen tröstet, Essen beruhigt, es ist relativ billig und immer verfügbar. Es ist viel schwieriger, nachts um zwei Uhr, wenn man sich einsam fühlt, einen Kollegen anzurufen, als etwas zu essen. Das Essen wirkt kurzfristig, hinterher ist die Ausgangslage aber immer noch die Gleiche, wenn nicht noch schlechter.

Welches ist aktuell die grösste Herausforderung?

Mit Sorge beobachten wir unter anderem, dass vermehrt Buben hoch dosierte Proteinkonzentrate, auch Anabolika, via Internet bestellen. Ohne Angabe des Alters und mit Kreditkarte der Eltern ist das leicht gemacht. Es besteht die Gefahr, dass sie sich damit einen schweren gesundheitlichen Schaden zufügen. In den 90er-Jahren hat man das bei Bodybuildern gesehen, die oft an Leberkrebs erkrankt sind.

Die meisten Unter- oder Übergewichtigen schämen sich oder haben eine falsche Körperwahrnehmung und nehmen deshalb keine Hilfe in Anspruch. Wie kann man Betroffenen helfen?

Wenn man das Gefühl hat, jemand wird dünner oder isst komisch, dann tut man diesen Menschen kein Leid an, wenn man sie darauf anspricht. Früherkennung ist ganz wichtig.