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Aargau
Wyna/Suhre
Die Reinacherin Joèlle Urech-Hennig und ihr Mann Oliver konnten von ihrem Retro-Stand leben. Dann kam Covid.
Sie würden gerade die hektischste Zeit des Jahres durchmachen. Dick angezogen hinter dem Marktstand, Gospelklänge in den Ohren, Zimtgeruch in der Nase. Joèlle und Oliver Urech-Hennig sind Marktfahrer mit Leib und Seele. Ein Markttag beginnt im Morgengrauen mit der Autofahrt und endet spät abends mit der Abrechnung der Verkäufe.
Dieses Jahr ist nichts mit Weihnachtsmärkten. Niemand wühlt sich durch die unzähligen Retro-Blechschilder mit Cola-Flaschen oder Vespas drauf, niemand bewundert die Tassen oder Vorratsdosen mit 1950er-Werbemotiven. Wegen Corona kann das Ehepaar nicht arbeiten. Die beiden haben sich vor sechs Jahren mit ihrem Retro-Konzept selbstständig gemacht. Leichtsinnig fällten sie diesen Entscheid nicht. Joèlle Urech-Hennig war mit 21 Jahren damals schon hart gesottener Marktprofi. Die ursprüngliche Oberkulmerin ist am Markt aufgewachsen. Schon der Grossvater hatte einen Marktstand mit Schallplatten, später fing er an, selbstbedruckte T-Shirts zu verkaufen, die ein Renner wurden. Der Vater hat das T-Shirt-Business weiterentwickelt, verkauft heute welche mit den typischen kraftstrotzenden Tiermotiven, die er aus den USA importiert.
An seinem Stand ist Tochter Joèlle aufgewachsen und hat so bald sie konnte dem Papa ausgeholfen. Sie habe schon früh gewusst: «Ich will auf dem Markt bleiben, ich will nichts anderes machen.» Als sie sich mit ihrem frisch angetrauten Ehemann den Retro-Marktstand eröffnete – die amerikanisch angehauchten Nostalgiesachen gefielen ihnen und sie wusste, dass sie sich gut verkaufen – teilte sie ihm als alter Profi mit: «Man muss da voll rein gehen, sonst hat man keinen Erfolg.» In reduzierter Form und nebenan noch arbeiten, lässt den Stand nie florieren. Er, der bereits am Stand ihres Vaters ausgeholfen hatte, war ganz ihrer Meinung. Seither führen sie ihr Geschäft als Haupteinkommen als Kollektivgesellschaft zu je 50 Prozent. Über ihren Onlineauftritt finden sie auch Nicht-Marktbesucher.
Tochter Emily ist vier Jahre alt. Auch sie begleitet die Eltern fast jedes Mal auf den Markt, kennt schon alle Gesichter hinter den anderen Ständen, manchmal entdeckt sie hinter aufgehängten T-Shirts ihren Grossvater. In wenigen Monaten wird sie ein Geschwisterchen bekommen.
Dann kam der Lockdown im Frühling. Auf ein Mal waren sie ohne Beschäftigung und Einkünfte. Eine Absage sei auf die andere gefolgt, sagt Oliver Urech-Hennig. Jeden Tag warten auf Nachrichten, dass die Kurve runtergeht, dass Märkte oder Clubtreffen von USA-Fans, wo sie ihren Stand aufstellen, wieder stattfinden können. Und sich jeden Tag von neuem mit der Bürokratie rumschlagen. «Der schweizerische Marktverband hat uns von Beginn an gut informiert», sagt Joèlle Urech-Hennig. Nach der Anmeldung für Erwerbsausfallsentschädigung die grosse Unsicherheit: Kommt Geld, kommt keins? Und wenn, wann? Manchmal sei anderthalb Monate lang kein Erwerbsersatz gekommen, «dann plötzlich jeden halben Monat. Dann wieder lange nichts», sagt er. Viele Telefonate führten sie im Frühling mit der SVA. Würde es im nächsten Monat wieder Geld geben? Wann würde es überwiesen? Die Antwort sei immer dieselbe gewesen. Man bitte um Geduld und um Verständnis. «Irgend wann haben wir nicht mehr angerufen», sagt sie.
Sie hätten einen Stand am Weihnachtsmarkt in Winterthur gehabt. 30 Tage lang gwundrige Marktbesucher, die Geschenke suchen. Ideal, um sich für die Trockenzeit von Januar bis März ein Fettpolster zu verdienen. Als dieser abgesagt wurde, meldeten sie sich für den Aarauer Weihnachtsmarkt an, der nun auch abgesagt ist. «Wir arbeiten normalerweise 220 Tage im Jahr», sagt er, «dieses Jahr werden es zwölf sein».
Oliver Urech-Hennig überlegte sich, zwischenzeitlich auf dem Bau zu arbeiten, wo er sein Handwerk gelernt hat. Aber nach langem Abwägen und Grübeln habe er sich dagegen entschieden. Weil in der Branche im Lockdown eher Leute entlassen denn eingestellt worden seien. Und weil man als Marktfahrer bereits alle Termine des Jahres gebucht hat. Fand ein Markt statt, mussten sie hin. Nicht nur, um präsent zu sein, sondern auch, um ihren Namen auf der Liste halten zu können. «Kreuzt man nicht auf, dann werden nächstes Jahr andere bevorzugt behandelt», sagt Joèlle Urech-Hennig.
Dass sie keinen Rechnungssteller um Aufschub bitten mussten, haben sie ihrer Vermieterin zu verdanken. Sie konnten dann zahlen, wenn das Geld kam. Ohne diese Flexibilität wäre es eng geworden. Hat ihnen die Krise die Freude am Métier verdorben? «Das geben wir niemals auf», sagt er, «Marktfahrer ist unser Traumberuf».