Abschiedsserie
«Mein Bild von den Patienten wird durch mein eigenes Erleben ergänzt»

Der in Pension gehende az-Redaktor Peter Siegrist trifft in einer Abschiedsserie ehemalige Schüler. Heute: Georg Kacl ist mit seinen Eltern 1970 in die Schweiz geflüchtet und weiss, was Migration bedeutet

Peter Siegrist
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Radiologe Georg Kacl steht vor dem Computertomographen, seinem Arbeitsplatz in der Klinik im Park in Zürich. Peter Siegrist

Radiologe Georg Kacl steht vor dem Computertomographen, seinem Arbeitsplatz in der Klinik im Park in Zürich. Peter Siegrist

Georg Kacl, 52, steht vor einem Computertomographen, auf dem Monitor steht noch ein Bild der Wirbelsäule des Patienten, den er behandelt hat. Hier, im 12. Stock in der Praxis Schanze, mit Blick über die Stadt, arbeitet Georg Kacl. Er ist Facharzt für medizinische Radiologie an der Klinik im Park in Zürich. CT, MRI, Röntgen und Utraschallgeräte sind seine Werkzeuge. Dank dieser Geräte hat er als Arzt den Ein- und Durchblick bei seinen Patienten. Bereits als Kind hat Georg seinem Vater, der Röntgenarzt im Kantonsspital Aarau war, über die Schultern geblickt und sich für diesen Beruf begeistert.

Abschiedsserie: az-Redaktor Peter Siegrist trifft ehemalige Schüler Redaktor Peter Siegrist, 64, geht Ende November in Pension und macht sich als Fotojournalist selbstständig. 14 Jahre war er Redaktor für Wynental-Suhrental. Von 1971 bis 1974 unterrichtete er an der Primarschule Buchs, von 1980 bis 2007 an der Bezirksschule Reinach. 2000 trat er mit einem Teilpensum in die az-Redaktion ein. 2007 erhöhte er sein Pensum auf 100 Prozent. Er hat sechs seiner ehemaligen Schüler besucht und erfahren, was aus ihnen geworden ist.

Abschiedsserie: az-Redaktor Peter Siegrist trifft ehemalige Schüler Redaktor Peter Siegrist, 64, geht Ende November in Pension und macht sich als Fotojournalist selbstständig. 14 Jahre war er Redaktor für Wynental-Suhrental. Von 1971 bis 1974 unterrichtete er an der Primarschule Buchs, von 1980 bis 2007 an der Bezirksschule Reinach. 2000 trat er mit einem Teilpensum in die az-Redaktion ein. 2007 erhöhte er sein Pensum auf 100 Prozent. Er hat sechs seiner ehemaligen Schüler besucht und erfahren, was aus ihnen geworden ist.

Aargauer Zeitung

Georg, deine Eltern sind nach 1968 mit dir aus der Tschechoslowakei in den Westen geflüchtet, warst du ein Migrantenkind?

Das war klassisch: Familie mit akademischer Ausbildung, beide Eltern Ärzte, ich Einzelkind. 1970 gelangten wir auf Umwegen via Holland in den Aargau. Mehrere zehntausend emigrierten damals, weil sie die Unterdrückung des kommunistischen Regimes nicht ertrugen. Fachspezialisten, Handwerker und Intellektuelle, es war ein fataler Aderlass für das Land.

Hast du die Flucht bewusst erlebt?

Ja, die ganze Angelegenheit war streng geheim. Meine Mutter hat mich vor dem Grenzübertritt genau instruiert, ich war damals sieben Jahre alt und das ganze eine «heisse» Aktion. Als wir unsere Heimat verliessen, konnte ich kein Deutsch. Meine Mutter hat mir in einem Crash-Kurs Hochdeutsch beigebracht. Und wenig später erlernte ich in Buchs die Mundart.

Stimmt, du hattest zuerst Hochdeutsch gesprochen und du warst nicht das einzige Ausländerkind.

Ich war in guter Umgebung, von den 40 Kindern in unserer Klasse waren viele Italiener und Spanier: Roberto, Loris, Salvatore, Paolo, Alice, Cristina. Wir hatten alle das gleiche Problem.

Wie wurdest du im Gastland Schweiz und in der Schule aufgenommen?

Es war problematisch. Es gab eine natürliche Selektion. Da waren hier die Schweizer und dort die Ausländer. Das liessen die Schweizer Kinder uns auch spüren. Es war zur Zeit der Schwarzenbach-Initiative, was das Thema aufheizte. Solche Dinge wiederholen sich.

Haben deine Erfahrungen, deine Vergangenheit Einfluss auf dein Verständnis zu Migranten, zu Patienten aus fernen Ländern?

Das ist so. Wir haben in der Stadt viele Migranten, ich habe auch Sans-Papiers behandelt. Man lernt dabei, dass diese Menschen aus andern Kulturkreisen ganz andere Wahrnehmungen, andere Schmerzempfindungen haben. Mein Bild von den Patienten wird durch mein eigenes Erleben ergänzt.

Du bist schon lange Schweizer, steckst du deine Vergangenheit und Herkunft einfach weg?

Das will ich gar nicht. Ich sage auch meinen beiden Töchtern, der tschechische Name wird euch begleiten, und er ist auch Teil eurer Geschichte.

Wie fühlst du dich heute?

Manchmal wie ein tschechischer Auslandschweizer. Ich habe auch Kontakt mit Kollegen und Cousins in Tschechien.

Als Primarschüler musstest du zwei Sprachen lernen, später kamen weitere dazu, wie war das?

Das hat mich stimuliert. Mittlerweile spreche ich sechs Sprachen. Ich hatte das Glück, jeweils bei guten Sprachlehrern Unterricht zu haben.

Georg Kacl erinnert sich an seinen jungen Primarlehrer: «Wenn du die Hechtrolle springst, dann gibts eine Sechs» «Peter Siegrist verstand es gut, die Unruhe der Klasse mit viel Sport abzukühlen. Da der junge Lehrer für seine angehende Militärkarriere sehr gut trainiert war, wollten wir Knaben ihm nacheifern. Einmal stand die Hechtrolle über den Kasten auf dem Programm, für viele ein teilweise unüberbrückbares Hindernis. Auch ich gehörte dazu, ich ging bei verschieden Sportarten eher vorsichtig zur Sache. Zur Hechtrolle gehörte schon eine Portion Mut, zumal man den Untergrund hinter dem Kasten nicht sah. Peter Siegrist verstand es, uns die Angst mit guter Vorbereitung mindestens teilweise zu nehmen. Als ich an der Reihe war, versagten meine Nerven und ich scheute wie ein Pferd vor dem Hindernis. Es kostete den Lehrer nur wenige Worte: ‹Wenn du die Hechtrolle springst, bekommst du eine Sechs im Zeugnis.› Das traf meinen Ehrgeiz, und ich sprang.»

Georg Kacl erinnert sich an seinen jungen Primarlehrer: «Wenn du die Hechtrolle springst, dann gibts eine Sechs» «Peter Siegrist verstand es gut, die Unruhe der Klasse mit viel Sport abzukühlen. Da der junge Lehrer für seine angehende Militärkarriere sehr gut trainiert war, wollten wir Knaben ihm nacheifern. Einmal stand die Hechtrolle über den Kasten auf dem Programm, für viele ein teilweise unüberbrückbares Hindernis. Auch ich gehörte dazu, ich ging bei verschieden Sportarten eher vorsichtig zur Sache. Zur Hechtrolle gehörte schon eine Portion Mut, zumal man den Untergrund hinter dem Kasten nicht sah. Peter Siegrist verstand es, uns die Angst mit guter Vorbereitung mindestens teilweise zu nehmen. Als ich an der Reihe war, versagten meine Nerven und ich scheute wie ein Pferd vor dem Hindernis. Es kostete den Lehrer nur wenige Worte: ‹Wenn du die Hechtrolle springst, bekommst du eine Sechs im Zeugnis.› Das traf meinen Ehrgeiz, und ich sprang.»

Zur Verfügung gestellt

Erinnern wir uns doch an die Schulzeit. Ihr seid meine erste Schulklasse gewesen. Ich war gerade mal 20 Jahre alt und übernahm 40 Schüler.

Ich erinnere mich gut an die Turnstunden. Uns Knaben hast du mit Fussball müde gemacht, dann haben wir regelmässig an den Geräten geturnt und auch die Kletterstange, die gehörte zum Pflichtprogramm. Das war für unsere «Multikulti-Bande» wohl genau das Richtige.

Jetzt darf man es sagen, ich habe dir damals einen völlig unpädagogischen Ratschlag erteilt. Damals, als dich Mitschüler dauernd plagten und prügelten. Weisst du noch?

Ja genau, du hast gesagt, ich solle mit meiner Faust voll zurückschlagen. Das tat ich, ein Faustschlag dem Angreifer mitten ins Gesicht. Nachher war Ruhe, ich hatte mir Respekt verschafft. Der Rat war eigentlich pädagogisch richtig, letztlich ging es darum, dass ich mich auch durchsetzte.

Du bist in einer Arztfamilie aufgewachsen, Mutter Kieferchirurgin, Vater Röntgenarzt. Bist du deshalb Arzt geworden?

Das war sicher so. Mich interessierte die Arbeit des Vaters. Er konnte jeweils schnell differenzieren, welcher Befund vorlag, die Sachen benennen und dann in einem kurzen Bericht klar darlegen. Das beeindruckte mich.

Was genau faszinierte dich?

Dass mein Vater in einen Menschen hineinblicken konnte, wenn nötig eine Nadel hineinsteckte und plötzlich war eine Diagnose möglich.

Heute bist du selber Arzt, der dank modernster Technik ins Innere der Patienten blickt. Braucht es da die Fähigkeiten eines Detektivs?

Es ist ein Suchen wie bei einem Puzzle. Ich suche nach einem Muster. Ein Puzzle kann man verschieden zusammensetzen, aber es gibt meistens nur eine richtige Diagnose. Das ist schwierig.

Was ist denn schwierig?

Es gibt Befunde, die gar nicht zu Krankheiten führen, aber es sieht krank aus. Mit der Erfahrung lernt man zu unterscheiden, was ist jetzt noch normal und was ist krank.

Also eine richtige Gratwanderung?

Das Schlimmste wäre, wenn ich einem Gesunden sagte, Sie haben Krebs, das ist fatal. Schlimm ist aber auch, wenn man etwas verpasst, aber auch das kann vorkommen.

Was freut dich als Arzt mehr, wenn du suchst und etwas findest oder wenn du suchst und nichts findest?

Es gibt unterschiedliche Patienten. Solche, die nichts sagen und doch etwas Schwerwiegendes haben. Da bin ich froh, wenn ich die Ursache von Beschwerden finde.

Und die andern?

Es gibt Menschen, die kommen, weil sie psychische Probleme haben, die sich im Darm oder mit Kopfweh äussern. Da finde ich nichts, und ich kann sagen, die Beschwerden gibt es zwar, aber die Ursache ist kein Tumor. Das kann schon Teil der Therapie sein.

Du bist als Arzt jeden Tag von Krankheiten umzingelt. Macht das dir selber nicht Angst vor Krankheit?

Wir Ärzte lernen zu erkennen, dass ein Unterschied besteht, zwischen der Krankheit und dem Arzt selber. Da baut sich jeder Arzt gewisse Barrieren auf im Sinn von ‹der Patient ists, der die Krankheit hat, und nicht du›. Ich darf mich als behandelnder Partner nicht mit dem Patienten identifizieren.

Was unternimmst du zum Ausgleich?

An den Arbeitstagen ist das gemeinsame Mittagessen mit Kollegen wichtig. Zu Hause ist es die Familie und die Musik. Ich spiele seit Jahren Klavier, nehme Stunden, spiele Solo- und Kammermusik. Und dann reise ich gern. Wenn ich Ferien habe, muss ich weg.

Ärzte raten stets zu viel Bewegung, hältst du dich daran?

Ich fahre gern Rad und arbeite oft im Wald. Wir haben in Frankreich ein Ferienhaus mit viel Wald als Umschwung. Da liebe ich es, zu holzen und körperlich schwer zu arbeiten. Das bringt oft Rückenweh, Müdigkeit und damit den nötigen Ausgleich und Zufriedenheit.