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Wyna/Suhre
Mike Hunziker erzählt, wie es ihm zwei Jahre nach Abgabe des Vizekommandos der Feuerwehr Oberwynental geht.
Das Hemd ist frisch und gebügelt, die Frisur mit Gel fixiert. Klarer Fall, hier sitzt ein Banker. Und solange er sitzt, könnte man denken, Mike Hunziker berate weiterhin seine Kunden. Und renne in der Freizeit an Übungen der Feuerwehr Oberwynental, wo er, wie üblich, der Erste vor Ort sein würde. Von wo er hernach noch mit den Kollegen eins Trinken geht und sie zusammen lachen. Wüsste man es nicht besser.
Sobald er aufsteht, wird seine multiple Sklerose (MS) für andere sichtbar. Das linke Bein will nicht mehr recht, der Stock, auf den sich der 40-Jährige stützt, ersetzt es. 2017 hatte er die Diagnose Progrediente MS erhalten, die seltenste der drei Verlaufsformen. Die Beschwerden nehmen schleichend zu, die Nervenbahnen, die geschädigt werden, bilden sich nicht mehr zurück. Geahnt hatte er es der Symptome wegen schon eine Weile zuvor, doch wollte er es nicht wahrhaben. Er war es, der anderen half – nicht umgekehrt. Im Dezember 2018 trat er als Vizekommandant der Feuerwehr zurück. Kurz darauf hatte ihn die AZ zum ersten Mal besucht, damals noch in seiner Menziker Wohnung.
Zwei Jahre sind seither vergangen. Inzwischen ist Mike Hunziker nach Reinach gezogen, hat die Wohnung, in der er aufgewachsen ist, rollstuhlgängig gemacht. Dank der grosszügigen (finanziellen und kräftemässigen) Hilfe von Familie und Freunden, oder wie er es sagt: «Zackzack und alle Kisten waren im Zügelwagen.» Vom Schlafzimmer kann er nun direkt unter die Dusche rollen und von dort zur Schrankwand – ohne sich einmal erheben zu müssen. Er hat Schmerzen, er ermüdet schnell, auch wegen der Medikamente, die er einnehmen muss. Wäre das Aufstehen am Morgen zu anstrengend, müsste er sich danach gleich wieder ausruhen.
Wie geht es ihm, drei Jahre nach der Diagnose? «Der Arzt kann messen, dass mein Zustand schlechter geworden ist, aber spürbar ist der Unterschied für mich noch nicht so sehr», sagt er. Stärker verschlechtert habe sich sein Gemütszustand. Zwar ist er nach wie vor Mitglied der Feuerwehr und kann bei den Einsätzen und Übungen dabei sein, wenn er will und es sein Gesundheitszustand zulässt. Er hat bei der Kommandoabgabe gar den Ehrenrang Stabsoffizier erhalten.
«Aber bis ich meine Strassenkleider angezogen habe, ins Auto gestiegen und zum Einsatzort gefahren bin, ist das Ganze schon vorbei», sagt er. «Wenn heute die Feuerwehr aufgeboten wird, dann setzte ich mich auf die Terrasse, lausche am Funkgerät und rauche eine Zigarette, das ist weniger stressig.» Richtig geniessen kann er den Einsatz aus der Ferne aber nicht. Vor allem, wenn die Feuerwehrautos an seinem Haus vorbeibrausen – ohne ihn.
Seit er mit Ende 20 der Feuerwehr beitrat, hat sie sein Freizeitleben bestimmt, seinen Freundeskreis bereichert. 14 Dienstjahre hat er geleistet, davon fünf als Vizekommandant, als die MS ihn zum Rücktritt zwang.
Viele der helfenden Hände, die ihn aus dem seelischen Tief gezogen haben, das auf die Diagnose folgte, waren die von Feuerwehrmännern und -frauen. Kräftig und mehrmals mussten sie an ihm ziehen, bis er sich helfen liess. Auch jetzt, da er für mehr Handgriffe auf Hilfe angewiesen ist als damals, Hilfe von der Familie, von Freunden, dem Arzt, vom Physiotherapeuten und der Ergotherapeutin, fällt es ihm nicht leicht, Hilfe anzunehmen. «Ich gebe mir Mühe», sagt er nicht ohne Schalk in den Augen. «Ich bin lernfähig, aber es geht lang.» Er zeigt auf ein langes Kabel am Boden. «Da, mein WLAN ist ausgestiegen, also musste ich das LAN-Kabel zu Hilfe nehmen. Ein Anruf würde genügen und ein Kollege käme, um es zu reparieren. Aber ich kann mich einfach nicht überwinden.»
Dafür ist seine Wohnung voll von Helfern, bei denen der stolze Feuerwehrmann keine Überwindung braucht. Neben drei verschieden grossen Rollstühlen ist sein Küchenhocker auf Rädern sein treuester Diener. Darauf rollt er zwischen Kühlschrank und Herd hin und her und kann sich hinsetzen, während er kocht. Ein magischer Stuhl von der Invalidenversicherung? «Nein.» Mike Hunziker schüttelt den Kopf, legt die Stirn in Falten. «Die IV macht es gut», das merke er. «Aber ich habe oft das Gefühl, dass die Sachbearbeiter sich nicht in uns hineindenken können.» Für manche Alltagshilfe müsse er der IV ellenlange Erklärungen abgeben. Dass er seine Wohnungs- oder Terrassentüre gerne elektronisch öffnen würde, weil es mit der Krücke oder dem Rollstuhl sonst zu kompliziert ist. Oder die Anpassung seines Autos. «Mein Garagist ist selber im Rollstuhl, er versteht sofort, was ich brauche.» Wieder schüttelt er den Kopf.
Der Esstisch ist mit Legos übersät. «Meine Neffen sind in der Lego-Phase und für mich ist es eine super Ergotherapie.» Und nicht nur die Legos wirken therapeutisch: «Während sie am Boden spielen, kann ich am Tisch sitzen und ihnen einfach zusehen. Ich ermüde nicht so schnell, wie wenn ich mit Kollegen in der Beiz bin, und habe doch Gesellschaft.» Seine eigenen Söhne, Teenager aus seiner geschiedenen Ehe, sieht er nicht oft, was ihn zusätzlich belastet, wie er sagt. Seine Neffen breiten dafür einmal pro Monat die Legos bei ihm in der Stube aus.
Aus dem Vereinsleben hat sich der frühpensionierte Vizekommandant nicht ganz verabschiedet. Er spielt weiterhin in der Brassband Krass Brass Schlagzeug. Dieses wurde für ihn umgebaut, damit er es trotz Handicap bedienen kann. So kann er die ganze Zeit über sitzen und ist trotzdem unter Leuten. Einmal pro Monat proben sie im luzernischen Oberkirch, gespielt wird an der Fasnacht. «Einen ganzen Abend halte ich zwar nicht durch, dann löst mich mein Bruder ab.» Schlagzeug spielen mitten im Fasnachtsgaudi: Manch kerngesundem Mann wäre das schon zu anstrengend.