Jagdaufseher Hansruedi Merz wird heute 90 Jahre alt. Keine Selbstverständlichkeit bei dieser Geschichte.
Leimbacher seiner Art kann man an einer Hand abzählen. Hier geboren, hier aufgewachsen, hier wohnhaft. Ein ganzes Leben lang. Und seines ist ein langes Leben: Hansruedi Merz feiert heute Donnerstag seinen 90. Geburtstag. Dazu ist er seit genau 70 Jahren Jäger und seit 65 Jahren Jagdaufseher. Und nächste Woche wird er für ein weiteres Jubiläum in seine ausgeklopfte Militäruniform steigen. Aber dazu später.
Geboren und aufgewachsen ist Hansruedi Merz mit seinen beiden Schwestern auf dem Hof mit der besten Aussicht und dem längsten Schulweg, oben im Seeberg, im Hof neben dem Strohdachhaus. Damals, als das Dorf noch aus halb so vielen Häusern bestand und das halbe Dorf in der Nagelfabrik Merz arbeitete. Damals, als es im Winter noch Schnee gab, sagt Hansruedi Merz. «Zwei Monate lang konnte ich mit den Ski in die Schule fahren», sagt er und lächelt. «Ich war ein böser Skifahrer.»
Eigentlich wollte Hansruedi den elterlichen Hof übernehmen. Aber es hatte nicht sein sollen. Er war als Bub oft krank, erwischte alles, was man haben konnte, und überlebte doch. Eine Hirnhautentzündung zum Beispiel. Aber es war ein dummes Auftreten beim Frühturnen in der Kur in Rheinfelden, das sein Leben zu einem anderen machte. Damals während des Kriegs, mit 12 oder 13 Jahren, als es den Patienten Merz im Luftschutzbunker fast aus dem Bett hob, weil im Deutschen Rheinfelden die Bomben fielen.
Der Fuss war nicht verstaucht wie gemeint, sondern gebrochen. Und weil die Knochen falsch zusammenwuchsen, musste Hansruedi Merz zur Operation in die Klinik Balgrist, mutterseelenallein, mit dem Zug nach Zürich, mit dem Tram da hoch. Im Sack ein paar Mahlzeitencoupons, die er am Bahnhof Zürich in ein Stück Aprikosenwähe investierte. Dieses Stück Wähe hat er nicht vergessen, all die Jahre nicht. «Etwas, was es daheim nie gab.»
Der Fuss wurde nicht mehr heil, er wurde steif. Die Zukunft als Bauer war dahin. «Der Vater sagte, wenn du eine Stelle hast, weisst du auch, was du Ende Monat hast», sagt Merz. Also suchte er sich eine Stelle und fand sie bei Hemdenfabrikant Fehlmann in Birrwil. Aber nicht in der Fabrik, sondern in den Stallungen. «Die Familie hatte Rennpferde, die ich versorgt habe.»
Mit dem Stellenantritt veränderte sich Merz’ Leben. Als Betreuer der edlen Pferde reiste er durch halb Europa, lernte die Rennbahnen in Paris, in Arosa und St. Moritz kennen, das mondäne Leben der Reichen und Adligen. Und was erst die Pferde waren, waren später die Hunde: Für die Ausbildung von Jagdhunden reiste er weiter. 1970 nahm Merz eine Anstellung bei der Reinacher Fabrikantenfamilie Fischer an. Auch diesmal nicht in der Fabrik, sondern als Privatchauffeur der Familie.
Er lebte ein Leben unterwegs. Und obwohl er so viel von der Welt zu sehen bekam, zog es ihn doch immer wieder zurück ins Wynental. «Ich war oft weg. Aber ich bin immer wieder gern heimgekommen.» Heim zu seinen Wurzeln. Nach Leimbach, auf den Seeberg, heim in seinen Wald. 1954, mit 25 Jahren, war Merz als Nachfolger von Max Härri zum Jagdaufseher gewählt worden. Fünf Jahre davor, noch vor seinem 20. Geburtstag und damit verbotenerweise, hatte er den Jagdpass gelöst. Dies, nachdem er am Morgen seinen ersten Fuchs und am Vortag seinen ersten Marder geschossen hatte.
Seit 65 Jahren ist er nun also Jagdaufseher, hat Kurse gegeben und ist inzwischen Ehrenpräsident Vereinigung Aargauer Jagdaufseher, schiesst das Obligatorische für die Jagd jährlich nahezu im Schlaf – letztes Jahr hat er als Mitglied der Schützengesellschaft Zetzwil an seinem 70. Feldschiessen einen Kranz geschossen. Auch nach all den Jahren ist er noch immer Jagdaufseher mit ganzem Herzen, noch immer zieht es ihn fast jeden Tag in den Wald. Er kann nicht genug davon bekommen, er fühlt sich dem Wald verpflichtet. «Was ich hier alles gesehen habe, das kann man nicht vergessen, all die Tiere, die hier leben und gelebt haben.»
Sein zweites Daheim, das ist das Strohdachhaus mit Baujahr 1783, das bis 1954 seiner Familie gehörte. Das Haus, das für ihn als Bub der prächtigste Spielplatz war, den man sich vorstellen konnte, und das er noch heute betreut. Er kennt alle Geschichten rund um das Haus, er selbst musste noch im Wald nach dem «Wolligen Schneeball» suchen, damit der Vater das Stroh auf dem Dach binden konnte.
Das ist es also, ein Teil dieses heute 90-jährigen Lebens. Vieles ist unerwähnt geblieben, viele Ämter und Titel, noch so viel mehr ist passiert. «Es war ein karges Leben. Aber ein schönes», sagt Merz. Er vermisse nichts, auch wenn er Junggeselle geblieben ist. Nicht, dass es nie gepasst hätte. Aber da waren immer die unterschiedlichen Konfessionen, katholisch und reformiert, die dazwischen standen.
Jetzt sei er froh, dass er noch zwäg sei, dass er seine Socken noch selber anziehen könne. Das sei keine Selbstverständlichkeit in dem Alter. Sowieso ist sein Leben keine Selbstverständlichkeit, erst vor gut zwei Jahren hat Merz Lungenkrebs und einen Herzinfarkt überlebt. Was ihm die Kraft gibt? Wohl der Wald. «Wenn ich eine Tanne sehe, die ich einst als kleines Ding gesetzt habe und die nun gross und stark wird von Jahr zu Jahr, dann ist das etwas Wunderschönes ...» Merz bricht ab, tief berührt.
Heute steht nun die grosse Feier an, verschiedene Delegationen haben ihren Besuch angekündigt. Nächste Woche feiert Merz ein anderes Jubiläum. 70 Jahre sind es dann her, dass er seine RS in Bière angefangen hat. Für dieses Jubiläum wird er seine Uniform anziehen und in einer Beiz einen heben. Allein.