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Wyna/Suhre
Die Klinik im Hasel in Gontenschwil testet mit Erfolg eine neue Form der Suchttherapie. Von den Teilnehmern blieben 39 von insgesamt 61 rückfallfrei. In der Kontrollgruppe waren es signifikant weniger.
Der Start ist einer der heikelsten Momente in der Luftfahrt. Beim Abheben muss das Flugzeug die eigene Gewichtskraft überwinden und gegen die Schwerkraft ankämpfen. Eine enorme Leistung ist nötig. Ähnlich ist es, wenn eine Person mit einem Suchtproblem einen Entzug macht und anschliessend versucht, den abstinenten Zustand aufrechtzuerhalten.
Doch der Aspekt der Leistung, der beim Flugzeugstart den meisten einleuchten dürfte, wird beim Thema Suchtausstieg oft von Scham, Schuldgefühlen und Vorwürfen aus dem Umfeld überschattet. Eine neue Therapieform in der Klinik im Hasel in Gontenschwil rückt genau diesen Aspekt ins Zentrum. Der Ansatz ist vielversprechend: In der Pilotstudie wurden signifikant weniger Teilnehmer rückfällig.
Einer der Betroffenen ist Andreas (Name geändert). Er ist anfang 50, von schlanker Statur und trägt kurzes, grau-braunes Haar. Andreas könnte gut als Chemielehrer oder Büroangestellter durchgehen. Ein wenig sieht er auch aus wie ein Postbote. Jedenfalls nicht so, wie sich noch immer viele einen «typischen Alkoholiker» vorstellen.
Ein Suchtproblem hat Andreas aber schon lange. Sicher zehn Jahre, wie er sagt. Der Auslöser war eine Trennung. Andreas hat angefangen zu trinken – alleine. Aus einem Glas wurden viele. So hat die Sucht einen schleichenden Anfang genommen. Dass er ein Problem hat, war ihm früh klar. «Man weiss haargenau, dass es ‹en Seich› ist», sagt Andreas.
Immer weiter zog Andreas sich aus dem sozialen Leben zurück. Das Konstrukt vom gesunden Angestellten aber wollte er lange aufrechterhalten. Da er mit sensiblen und giftigen Stoffen zu tun hat, ist Alkohol in seinem Job eigentlich ein Tabu. «Am Abend habe ich jeweils mit dem Alkoholmeter ausgerechnet, wie viel ich trinken kann, um am nächsten Morgen wieder nüchtern zu sein», erzählt Andreas. Nicht immer hat das geklappt. Vor ein paar Wochen war es dann endgültig zu viel. Andreas landete im Spital und anschliessend für drei Monate in Gontenschwil in der Klinik im Hasel.
Hier wurde er zufällig ausgewählt, bei der Studie zur leistungssensiblen Suchttherapie (LST) mitzumachen. Zusätzlich zum gängigen Entzug nahm er an drei 90-minütigen Gruppensitzungen teil. Es ging um Ehrlichkeit, Transparenz und die eigene Haltung zur Sucht. Ausgearbeitet wurde die Therapie von Martin Fleckenstein und Marlis Fleckenstein-Heer.
Die Psychologen sind in der Klinik im Hasel tätig. Er leitet die stationäre Therapie in Gontenschwil, sie arbeitet in der Tagesklinik in Lenzburg. «Immer wieder erleben wir, dass Betroffene voller Scham in die Klinik kommen und genau gleich schambesetzt wieder rausgehen», sagt Marlis Fleckenstein-Heer.
Für Nicht-Süchtige sei Abstinenz ein leicht herstellbarer Normalzustand. Dass die Erreichung und Aufrechterhaltung der Abstinenz für Menschen mit einer Suchterkrankung eine täglich zu erbringende Leistung werde, sei den meisten Betroffenen und Angehörigen nicht bewusst.
«Ich wäre selbst gar nie darauf gekommen, dass ich mich nach dem Entzug stolz fühlen könnte. Die Scham und das Gefühl des Versagens sind beim Eintritt einfach riesengross», sagt Andreas. Verständlich wurde es dank der Flugzeug-Metapher. Der Start ist der Entzug, der Flug die Abstinenz. Um möglichst lange weiterfliegen zu können, braucht es Kerosin. Kerosin ist die Abstinenzmotivation des Betroffenen. «In der Luft alleine zu tanken, das geht nicht», sagt Martin Fleckenstein. Es braucht Hilfe von aussen.
Diese spielt auch in der LST eine grosse Rolle. In der letzten Sitzung werden Angehörige eingeladen. Sie hören alles, was in den vorangegangen Sitzungen besprochen wurde, bringen Ängste und Wünsche zum Ausdruck und werden sich bewusst, dass auch sie als Unterstützer eine Leistung erbringen. Für Andreas kamen sein Bruder und zwei Freunde mit ihren Ehefrauen zur Sitzung. «Ich war überwältigt. Es war sehr speziell, dass sie nur wegen mir hierher gekommen sind», sagt er.
Die Gruppe von Andreas war die letzte, die an der Studie in der Klinik im Hasel teilgenommen hat. Ziel von Marlis und Martin Fleckenstein ist es, die LST als fester Bestandteil der Entzugstherapie an den verschiedenen Standorten der Klinik einzuführen. Schon in einer ersten Pilotstudie, die ab 2013 an der Psychiatrischen Klinik Königsfelden durchgeführt wurde, konnten die Psychologen zeigen, dass die Teilnahme an LST zu weniger Rückfällen während der Entzugsbehandlung führt. Von den Teilnehmern blieben 63,9% ohne Rückfall (39 von insgesamt 61). In der Kontrollgruppe waren es mit 48,9% (46 von 94) signifikant weniger.
Die endgültigen Zahlen der Studie an der Andreas teilgenommen hat, sind noch nicht bekannt. Auch ist noch unklar, ob der positive Effekt über die Behandlung hinaus erhalten bleibt. Es wurden noch keine Nachbefragungen durchgeführt. So oder so bleiben Andreas die Sitzungen in spezieller Erinnerung. «Die paar Stunden haben mir mehr geholfen, als viele andere Therapiesitzungen zusammen», sagt er.
In der LST haben er und seine Angehörigen auch festgelegt, wie sie mit einem möglichen Rückfall umgehen. Denn wenn das Kerosin – die Motivation – ausgeht, stürzt das Flugzeug ab. Dann ist es wichtig, es schnell wieder in die Luft zu kriegen.