Menziken
Bloss nicht laut schreien: So haben die Frauen vor 100 Jahren in Menziken Kinder zur Welt gebracht

1911 richtete das damalige Krankenasyl Oberwynen- und Seetal ein Geburtenzimmer ein. Was die Protokollbücher über das Gebären im Spital vor über 100 Jahren erzählen.

Katja Schlegel
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Das Krankenasyl bei der Eröffnung 1902. Im neu eingerichteten Geburtenzimmer kommen 1911 neun Kinder zur Welt.

Das Krankenasyl bei der Eröffnung 1902. Im neu eingerichteten Geburtenzimmer kommen 1911 neun Kinder zur Welt.

Peter Siegrist;zvg;

1902 wird das Krankenasyl Oberwynen- und Seetal auf Initiative des engagierten Menzikers Jakob Irmiger (1853 – 1938) hin eröffnet. Ein Spitalbau mit 28 Patientenbetten und einem Operationssaal, aber ohne Strom, ohne Röntgen- oder Desinfektionsapparat, ohne Anschluss an die Kanalisation, ohne Waschmaschine – und ohne Geburtenabteilung. Strom hat das Asyl erst ab 1904, im Jahr darauf wird ein Röntgenapparat gekauft.

Erst neun Jahre nach der Eröffnung, im Jahr 1911, wird das Geburtenzimmer eingerichtet – ohne fliessendes Wasser oder Toilette, zwischen zwei Patientenzimmern gelegen. Frauen werden angehalten, sich zusammenzunehmen und bloss nicht zu laut schreien, um die anderen Patienten nicht zu stören. Männer dürfen bei der Geburt nicht dabei sein.

Im ersten Jahr kommen im Asyl neun Kinder zur Welt. Eine überraschend geringe, aber erklärbare Zahl: Vor 1900 hat die Medizin ihren bislang grössten Wandel erlebt. Nie zuvor wurde – in unseren Breitengraden – so viel am menschlichen Körper geforscht und entdeckt, Instrumente wie das Stethoskop oder das Mikroskop wurden erfunden und die Röntgenstrahlen entdeckt.

Mit dem breiten Einsatz von Betäubungsmitteln wurden ab 1850 chirurgische Eingriffe möglich. Das grosse Problem aber ist die Hygiene: Blutvergiftungen und Wundfieber treten regelmässig auf, in europäischen Geburtskliniken liegt die Sterberate an Kindsbettfieber um 1900 bei um die 30 Prozent.

Vom Werden und Sterben

Die Menschen haben wegen der hohen Infektionsrate schlichtweg Angst davor, sich im Asyl (Spital) behandeln zu lassen. Ärzte werden nach Hause gerufen, nicht nur zum Gebären, sondern auch für Operationen. So haben sich um 1900 beispielsweise gut betuchte Aarauer lieber in der heimischen Badewanne oder auf dem Küchentisch unter das Messer von Chirurg Eugen Bircher gelegt, als in der Kantonalen Krankenanstalt Aarau.

Gegen Schliessung: Kampf für die Geburtenabteilung

Selten hat eine Petition derart schnell derart viele Unterstützer gefunden, wie das am Sonntag lancierte Begehren gegen die Schliessung der Geburtenabteilung im Asana Spital Menziken.

Bereits am Montagmittag wurde das Ziel von 200 Unterschriften geknackt. Am Dienstagabend waren es bereits über 350. Die Petition läuft noch bis zum 5. Juni.

Die ablehnende Haltung gegenüber einer Geburt im Spital hatte aber noch einen anderen Hintergrund. «Werden und Sterben gehört ins eigene Heim», soll selbst Dr. Hermann Steiner jeweils gesagt haben, der erste Leiter der Chirurgischen Abteilung des Krankenasyls Menziken. Wer etwas auf sich hielt, gebar daheim. Nicht nur dem guten Ruf wegen, sondern auch dem engen Vertrauensverhältnis mit der Hebamme.

Selbst in der Geburtsklinik in Aarau gebären hauptsächlich armengenössige oder ledige Frauen. Denn die Geburtsklinik diente als Ausbildungsstätte für angehende Ärzte und Hebammen, die Spitalpflege war deshalb laut Reglement vier Wochen vor und nach der Geburt unentgeltlich. Wohl aus Kostengründen sprach sich der leitende Oberarzt Heinrich Bircher gegen die Verköstigung und Unterbringung gesunder Schwangeren aus, und förderte die Hausgeburt.

Windelhösli zu Weihnachten

Geld war auch in Menziken ein grosses Thema: Während eines Rechtsstreits mit der Aargauer Regierung um die Beteiligung am Bau des Absonderungshauses fehlt es im Krankenasyl an allen Ecken und Enden. 1920 holt der Asylvorstand Offerten für eine Toilette und ein Waschbecken mit Kalt- und Warmwasser ein. Aufgrund der hohen Kosten von 971 Franken beziehungsweise 1300 Franken wird auf den Einbau verzichtet.

Dankbar nimmt das Asyl zu Weihnachten die Spende von vier Dutzend Windeln, 18 Kinderschlüttli und zwei Dutzend Windelhösli aus der Bevölkerung entgegen, nebst allerlei Esswaren wie Würsten, Butter, weisse Böhnli, Schmelzbrötli, Orangen und Cacao – und zwei Türvorlagen, einem Herrenhut und einem Bund Besen.

Erst 1928 kann der Erweiterungsbau und damit auch ein neues Geburtenzimmer eingeweiht werden. 1935 wird aufgrund der Zunahme bei den Geburten und der «Nachfrage aus Frauenkreisen» eine Hebamme angestellt. Kaiserschnitte sind zu dieser Zeit noch höchst selten: Im Verzeichnis der ausgeführten Operationen aus dem Jahr 1924, dem ältesten vorhandenen Verzeichnis aus dem Asyl, ist ein einziger Kaiserschnitt aufgelistet.