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Margherita Guerra ist nicht aufzuhalten. Weil ihr in Lenzburg ein Fotofestival fehlte, hat sie flugs eines gegründet.
Wenn Margherita Guerra in einem Kaffee in der Altstadt am Fenster sitzt, kennt sie ständig Leute, die vor der grossen Scheibe vorbeiwandeln. Die Leute winken, Margherita Guerra strahlt, winkt zurück und spricht auch mit ihnen – «Ciao, cara ...», obwohl sie es durch die Scheibe nicht hören können. Guerra ist so, wie man sich eine typische Italienerin vorstellt: gesprächig, warmherzig, voller Energie. Vor sechs Jahren ist sie mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern aus Italien in die Schweiz ausgewandert und hat wenige Jahre später das Lenzburger Fotofestival gegründet. Heute hat Margherita Guerra (43) drei Kinder und das Fotofestival geht dieses Jahr in die dritte Runde.
Als ihr Mann 2013 eine Stelle als Maschinenbauingenieur im Aargau erhalten hat, zögerte Guerra nicht, Italien zu verlassen. Sie mag Veränderung, sucht sie immer wieder. In Mailand aufgewachsen, studierte sie Theologie, um der Frage nach dem Sinn auf den Grund zu gehen. Danach betrat sie irdischeres Terrain, hat einen Master in «Multimedia Editing» gemacht und in der Verlagsbranche unter anderem als Bildredaktorin gearbeitet. Eine Arbeit, von der die meisten Leute nicht wissen, dass es sie gibt. Die Bilder in Zeitungen und Magazinen rutschen da nicht von selber rein. Bildredaktorinnen und Bildredaktoren suchen passendes Bildmaterial, kaufen Fotos und deren Rechte oder vergeben Aufträge an Fotografen. Durch diese Tätigkeit erhielt Margherita Guerra ihren nächsten Job im Archiv «Alinari» in Florenz, dem nach eigenen Angaben ältesten Fotoarchiv der Welt. Hier arbeitete sie zehn Jahre lang. «Ich sah viele Bilder», sagt sie. So viele, dass sie aufhörte, selbst zu fotografieren.
Eine schöne Zeit sei das gewesen in Florenz. Aber zehn Jahre sind für eine wie Guerra eine halbe Ewigkeit. So kam es nicht ungelegen, dass sie in Florenz einen Sarden kennenlernte. «Ein Inselmann», sagt sie. Der Inselmann mochte Florenz nicht so. Deshalb zögerten beide nicht, alles Gewohnte hinter sich zu lassen und einem Jobangebot in den Aargau zu folgen. Die Grossstädter liebäugelten mit Zürich, entschieden sich aber aufgrund der Nähe zu Natur und Arbeitsplatz für Lenzburg. Margherita Guerra kam schnell mit den Leuten in Kontakt. «Ich habe auf den Spielplätzen angefangen, Deutsch zu lernen», sagt sie. Später kamen noch Deutschkurse dazu, heute parliert sie auf Deutsch fast so schnell wie auf Italienisch. Sie gründete das Start-up «Yourpictureditor», ein internationales Netzwerk von Bildredaktorinnen und Bildredaktoren. «Aber ich wollte mehr in Lenzburg machen», sagt sie. «Lenzburg ist kulturell so vielfältig.» Doch eines fehlte: Fotografie. So gründete Margherita Guerra 2017 zusammen mit vier Freundinnen den Verein Gesellschaft für Fotografie. 2018 führte die Direktorin das erste Fotofestival Lenzburg durch. «Doch ich war nicht allein», betont sie. Sie habe von Anfang an viel Unterstützung erhalten, besonders von der Kulturkommission und von Stadtammann Daniel Mosimann. «In der Anfangsphase des Fotofestivals waren wir viele Mütter mit kleinen Kindern.»
Das Fotofestival füllte eine Lücke, von der vor Margherita Guerra gar niemand wusste, dass sie da war. Mit jeder Ausgabe wurde der Anlass grösser und bekannter. Guerra sind sowohl Professionalität – «Wir sind kein Fotoclub» – wie auch der Bezug zum Standort Lenzburg wichtig. Im ersten Jahr zeigte das Festival unter dem Motto «Lenzburg im Wandel» unveröffentlichte Fotos des Stadtbauamtmitarbeiters Armin Nussbaum aus dem Archiv des Museums Burghalde.
Jedes Jahr werden Fotos in den Schaufenstern von Lenzburger Geschäften ausgestellt. Wie es dazu kam, ist typisch Margherita Guerra. Für sie gibt es keine Hindernisse, «learning by doing», sagt sie. Auf der Suche nach Ausstellungsorten dachte sie an leere Geschäfte, doch niemand wollte ihr zehn Monate zuvor einen Raum für einen Monat vermieten. «Da habe ich einfach gedacht: ‹Was kann man mit den vollen Geschäften machen›»? Für die zweite Edition des Fotofestivals konnte Guerra eine Zusammenarbeit mit dem Stapferhaus gewinnen, wo auch dieses Jahr wieder Workshops und Talks durchgeführt werden. Auch im Müllerhaus wird ausgestellt. «Lenzburg ist perfekt für ein Fotofestival», sagt Guerra. Klein genug, damit der Anlass nicht untergeht. Und ideal zwischen den Polen Basel und Zürich gelegen.
Die Italienerin ist froh, dass sie in Lenzburg gelandet ist. «Wir sind sehr glücklich hier», sagt sie. Auch ihr ist der Wandel der Stadt mit ihren vielen neuen Gebäuden aufgefallen. «Das ist extrem», sagt sie. «In Florenz ist alles seit 500 Jahren gleich». Diese Tendenz kennt Lenzburg allerdings auch. Doch gegen den Tatendrang einer Margherita Guerra hat auch die Lenzburger Beständigkeit keine Chance.