Bezirksgericht Lenzburg
Versuchte Entführung: Gericht verurteilt Mann, der ein Mädchen ansprach

Im Mai sprach ein 53-jähriger Mann eine Neunjährige an. Das Bezirksgericht kam zum Schluss, dass er das Kind entführen wollte. Es verurteilte ihn zu einer Therapie und 14 Monaten Gefängnis.

Aline Wüst
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Das Mädchen rannte weg, als der Mann es aufforderte, mit ihm mitzukommen.

Das Mädchen rannte weg, als der Mann es aufforderte, mit ihm mitzukommen.

Istockphoto

So sieht er also aus: Der Schreck aller Eltern – ein Mann, der Kinder auffordert, mit ihm mitzukommen. Ihnen sagt: «Dein Mami ist im Spital, ich habe Häschen zu Hause, du kannst sie streicheln, komm mit.»

Sieht er so aus? Lange, fettige Haare, Schnauz und Bart, Trainerhose und roter Faserpelz?

So sah jedenfalls der Mann aus, der gestern vor den Bezirksrichtern in Lenzburg stand. Ein Mann, der nach dem Schuldspruch wegen versuchter Entführung eines Kindes ganz ruhig sitzen blieb.

Ein Mann, der nicht fassbar ist, der keine Freunde hat. Keinen einzigen. Der auf dem Boden in einem Anbau seines Elternhauses schläft, auf Karton. Der die Menschen nicht mag, nicht weiss, was er zu ihnen sagen soll.

Ein Mann, der unter einer Schizophrenie leidet und sagt: «Zwischen mir und der Menschheit besteht eine Differenz.» Ein Mann, über den in einem Gutachten steht: «Solange er nicht bereit ist, uns Zugang zu seinem Denken, Fühlen und Wollen zu geben, können wir nicht weiterhelfen.»

Ein solcher Mann ist suspekt – aber auch dankbares Opfer.

Teddy und Kinderzahnbürsten

Es war Ende Mai. Die 9-jährige Lea (Name geändert) ist auf dem Weg nach Hause. Sie durchquert den Bahnhof. Dort spricht sie dieser Mann an, fordert sie auf mitzukommen. Sie rennt weg und kann der Polizei den Mann später ganz genau beschreiben. So genau, dass er noch am gleichen Abend gefasst wird. Der Mann ist oft am Bahnhof.

Lea werden einige Tage später Fotos vorgelegt von Männern. Darunter auch das Foto des Mannes, der jetzt dasitzt, teilweise wirre Sachen redet und immer wieder verlegen lächelt. Lea erkennt den Mann zuerst nicht. Erst beim zweiten Mal tippt sie auf sein Foto.

Nach seiner Verhaftung wird eine Hausdurchsuchung angeordnet. Im Chaos findet die Polizei einen Teddybär, Kinderzahnbürsten, bunte Haargummis. Wofür braucht ein 53-jähriger Mann das? Er kann keine schlüssigen Erklärungen geben. Der Teddy habe mit Parapsychologie zu tun, sagte er.

Für den Oberstaatsanwalt sind Teddy und Zahnbürsten weitere Indizien – Gegenstände für das Mädchen vermutlich. «Der Beschuldigte hat im Rahmen seiner Möglichkeiten Vorbereitungen getroffen, um das Kind zu entführen», sagt er.

Was er mit dem Kind tun wollte, das bleibe Spekulation. «Ob es um sexuelle Handlungen, Nötigung oder sogar um eine Tötung ging, weiss niemand», sagt der Oberstaatsanwalt. Er sei froh, dass es an dieser Verhandlung nicht um ein solch «knallhartes Delikt» gehe. Dafür sei das Beweisverfahren entsprechend schwierig. Bei der Hausdurchsuchung wurde kein Hinweis gefunden, dass der Mann sich zu Kindern hingezogen fühlt.

Während der Befragung sagt der Beschuldigte – der bisher vehement bestritten hatte, ein Kind angesprochen zu haben: «Ich habe an diesem Tag am Bahnhof einen Mann beobachtet, der ein Mädchen ansprach und ihm sagte, seine Mutter sei im Spital.» Gerichtspräsident Daniel Aeschbach horchte auf: «Warum sagen Sie das erst jetzt?» – «Es hat mich niemand danach gefragt», antwortet der Beschuldigte.

Der Oberstaatsanwalt mutmasste später, dass der Mann wohl seine Tat auf eine andere Person projiziere.

Das Gericht liess sich lange Zeit mit der Urteilsberatung. Der Schuldspruch fiel mit 3:2 Stimmen. 14 Monate muss der Mann im roten Faserpelz hinter Gitter. Die Haft wird zugunsten einer stationären therapeutischen Massnahme aufgeschoben.

Gerichtspräsident Daniel Aeschbach betonte: «Es geht uns nicht darum, einen Sündenbock zu finden.» Und man sei sich darüber im Klaren, dass der Beschuldigte ein dankbares Opfer sei. Aber man habe sich die Videobefragung des Mädchens nochmals angeschaut. «Alle fanden die Aussagen des Kindes extrem glaubwürdig.»

Wesentlich sei beim Schuldspruch auch, dass der Beschuldigte nun gesagt habe, dass er einen anderen Mann gesehen habe, der ein Mädchen ansprach, sagte Aeschbach. Die Schwelle zum Verbrechen sei überschritten worden.

Der Anwalt des Beschuldigten kündigte bereits an, dass er das Urteil weiterziehen und eventuell sogar Schadenersatz fordern werde.