Vierfachmord Rupperswil
«Kann Entscheid nicht nachvollziehen»: Obergericht-Dispens für Thomas N. stösst auf Kritik

Vierfachmörder Thomas N. muss nicht vor dem Aargauer Obergericht erscheinen – ein umstrittener Entscheid.

Andreas Maurer
Drucken

Thomas N., 35, ist ein rätselhafter Mensch: Als seine Tat, der Vierfachmord von Rupperswil, bekannt war, stellte man sich ihn als «Bestie» vor. Doch vor dem Lenzburger Bezirksgericht trat im Frühling kein Monster auf, sondern ein höflicher junger Mann. Nun konnte man sich ihn plötzlich als Kollegen im Fussballclub vorstellen. Selbst die Profis, die Psychiater, hatten Mühe, sein Inneres zu beurteilen. Sie erstellten widersprüchliche Diagnosen.

Mit Spannung war deshalb der zweite Auftritt von N. in der Öffentlichkeit erwartet worden. Wie wird er sich am 13. Dezember an der Verhandlung vor dem Aargauer Obergericht geben? Wird er glaubhaft machen können, dass man ihm mit einer Therapie helfen sollte, anstatt ihn zwingend für immer wegzusperren? Man wird es nicht erfahren.

Thomas N. bat darum, an der zweitinstanzlichen Verhandlung nicht teilnehmen zu müssen. Der Gerichtspräsident bewilligte sein Gesuch. Deshalb werden die Fachleute unter sich bleiben: die Psychiater, die Staatsanwältin, die Verteidigerin und die Richter.

Die Gründe sind geheim

Die Strafprozessordnung definiert: «Die Verfahrensleitung kann die beschuldigte Person auf ihr Gesuch hin vom persönlichen Erscheinen dispensieren, wenn diese wichtige Gründe geltend macht und wenn ihre Anwesenheit nicht erforderlich ist.» Das Obergericht hält die Begründung geheim. Verteidigerin Renate Senn schweigt.

Denkbar ist folgende Argumentation: N. könnte psychisch angeschlagen sein und geltend machen, unter dem Medienrummel zu leiden. Seine Anwesenheit könnte als nicht erforderlich eingestuft werden, weil die Schuldfrage geklärt ist. Es geht nur noch darum, welche Verwahrung und welche Therapie angemessen sind.

Richterin «kann Entscheid nicht nachvollziehen»

Eine Oberrichterin eines anderen Kantons sagt: «Ich kann den Entscheid nicht nachvollziehen. Bei derart schwerwiegenden Delikten will ich mir einen persönlichen Eindruck des Menschen machen.» Dies sei für sie wichtig, um die Therapierbarkeit einzuschätzen. Diese Frage könne nicht vollständig an die Psychiater delegiert werden.

Normalerweise fordert die Anklagebehörde eine Anwesenheit des Täters. Als die Strafprozessordnung kantonal geregelt war, konnten die Staatsanwälte in der Regel bei einer Dispensation mitreden. In der nationalen Strafprozessordnung von 2011 gibt es diese Möglichkeit nicht mehr. Die Aargauer Staatsanwaltschaft teilt mit, sie habe keine Stellung zum Gesuch nehmen können.

Thomas N. ist nicht der erste prominente Täter, der sich vor dem Gang vor Gericht drückt. Der Ökoterrorist Marco Camenisch und der Sarasin-Whistleblower Reto T. zum Beispiel liessen sich beide aus gesundheitlichen Gründen von Verhandlungen dispensieren. Speziell am Fall Rupperswil ist allerdings, dass die Verhandlung nur wegen Thomas N. stattfindet. Hätte er nicht Berufung eingelegt, wäre das Urteil jetzt rechtskräftig und er hätte seine Ruhe.

Valentin Landmann staunt

Der Zürcher Verteidiger Valentin Landmann sagt: «Die gesamte Verteidigungsstrategie ist rational nicht nachvollziehbar.» Als Verteidiger hätte er Thomas N. geraten, das Urteil zu akzeptieren. Mehr könne er nicht herausholen. Doch nun sei auch eine Verschärfung denkbar. Eine zweite Verhandlung zu verlangen, aber nicht daran teilzunehmen, findet Landmann seltsam.

Nicht nur der Täter, auch die Verteidigerin gibt Rätsel auf.

Vierfachmord Rupperswil – von der Tat bis zum Urteil:

Vierfachmord Rupperswil – von der Tat bis zum Urteil: Am 21. Dezember 2015 wird Rupperswil zum Schauplatz eines der grausamsten Mordfälle in der Schweizer Kriminalgeschichte.
45 Bilder
Als die Feuerwehr zu einem Brand in einem Haus an der Lenzhardstrasse ausrückt, können die Einsatzkräfte nicht ahnen, was auf sie zukommt.
In diesem Haus entdecken die Feuerwehrleute vier verkohlte Leichen.
Wenig später nehmen Ermittler und Spurensicherung ihre Arbeit auf.
Zwei Tage nach den Morden teilt die Polizei mit: Bei den Opfern handelt es sich um Carla Schauer (†48), ihre beiden Söhne Davin (†13) und Dion (†19) ...
... sowie um die Freundin des älteres Sohnes, Simona (†21).
Rupperswil steht unter Schock. Vom Täter fehlt jede Spur.
Die Menschen im Dorf nehmen Anteil am Schicksal der Opfer: Zeichen der Anteilnahme vor dem Haus, in dem die Taten geschahen.
Viele Kerzen beim Haus der Opfer sind für diese angezündet.
8. Januar 2016: In Rupperswil findet ein Gedenk-Gottesdienst für die Opfer statt.
Rund 500 Personen wohnen dem Trauer-Gottesdienst bei. Wegen des grossen Andrangs müssen rund 200 Gäste den Gottesdienst vom Saal des Kirchgemeindehauses aus verfolgen.
18. Februar 2016: Staatsanwaltschaft und Polizei informieren erstmals ausführlich über die Geschehnisse in Rupperswil an einer Pressekonferenz. Im Bild Staatsanwältin Barbara Loppacher und Kripo-Chef Markus Gisin.
An dieser Pressekonferenz setzen die Behörden eine Belohnung von bis zu 100'000 Franken für Hinweise auf die Täterschaft aus.
Mit Flugblättern (in 7 Sprachen) sucht die Polizei nach Zeugen und Hinweisen.
Auf dem Flugblatt ist auch dieses Bild von Carla Schauer (†48) zu sehen, aufgenommen von einer Überwachungskamera: Sie hebt am Tattag um 9.51 Uhr Geld an einem Bankschalter in Wildegg ab. Es sind 9850 Franken.
Später veröffentlicht die Polizei auch dieses Bild: Carla Schauer hebt um 10.10 Uhr an einem Geldautomaten in Rupperswil 1000 Euro ab.
April 2016: Die ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY – ungelöst" macht Filmaufnahmen zum Mordfall von Rupperswil. Der Beitrag soll bald ausgestrahlt werden – doch dazu kommt es nicht mehr.
13. Mai 2016: Fast fünf Monate nach dem Tötungsdelikt laden Polizei und Staatsanwaltschaft kurzfristig zu einer zweiten grossen Pressekonferenz ein.
Oberstaatsanwalt Philipp Umbricht enthüllt: "Der Täter ist gefasst. Es handelt sich um einen 33-jährigen Schweizer aus Rupperswil, der nicht vorbestraft ist."
Der Starbucks in Aarau: Hier nahm die Polizei Thomas N. fest.
Das ist er: Thomas N., neben dem Haus der Familie Schauer in Rupperswil. (Fotomontage)
Thomas N. war jahrelang Fussball-Trainer und betreute C-Junioren. Die Junioren, ihre Familien und die Vereinsmitglieder sind geschockt.
Dieses Bild zeigt Thomas N. als Betreuer an einem Fussballspiel im April 2016, rund vier Monate nach der Tat.
Dieses Bild zeigt Thomas N. als Betreuer an einem Fussballspiel im April 2016, rund vier Monate nach der Tat.
Dieses Bild zeigt Thomas N. als Betreuer an einem Fussballspiel im April 2016, rund vier Monate nach der Tat.
In diesem Haus in Rupperswil – nur wenige Meter vom Haus der Familie Schauer entfernt – wohnte Thomas N. zusammen mit seiner Mutter.
Bei Thomas N. zu Hause fand die Polizei diesen Rucksack samt Utensilien. Sie liessen befürchten, dass er eine nächste Tat bereits geplant hatte.
7. September 2017: Staatsanwältin Barbara Loppacher von der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau erhebt Anklage.
Wenige Tage nach der Ergreifung des Täters wird bekannt: Die Rechtsanwältin Renate Senn wird Thomas N. als amtliche Verteidigerin vor Gericht vertreten.
Thomas N. sitzt im Gefängnis Pöschwies in Regensdorf in Haft.
Der Prozess vor dem Bezirksgericht Lenzburg fand aus Platzgründen im Polizeigebäude in Schafisheim statt. 65 Medienschaffende und 35 Zuschauer verfolgten ihn.
Den Kopf hat er meist auf seine rechte Hand gestützt, mit Zeigfinger und Daumen hält er sich die Nasenwurzel.
Das Gericht: René Müller (SVP), Margrit Kaufmann (CVP), Schreiber Lukas Fischer, Präsident Daniel Aeschbach (SVP), Marianne Bitterli (SVP), Luca Cirigliano (SP).
Blick in den Gerichtssaal mit dem Angeklagten (rechts aussen).
Thomas N. vor Gericht.
Brief-Ausschnitt: Thomas N. schrieb den Angehörigen einen Brief – aber ohne das Wort "Entschuldigung" zu verwenden. Während des Prozesses wurde dies bekannt.
Thomas N. am ersten Prozesstag: Er spricht deutlich, verliert nie die Fassung.
Staatsanwältin Barbara Loppacher (vorne).
«Ich bin pädophil», sagt der geständige 34-Jährige vor Gericht.
Der vierfache Mörder von Rupperswil AG (Bildmitte) soll verwahrt werden. Das Bezirksgericht Lenzburg verhängte eine lebenslängliche Freiheitsstrafe und ordnete eine ordentliche Verwahrung an.
Gerichtszeichung von Thomas N. bei der Urteilsverkündung am Freitag.
Gegen das Urteil erhob Thomas N. Berufung. Er wehrte sich gegen die ordentliche Verwahrung. Daraufhin erklärte auch die Staatsanwaltschaft Anschlussberufung: Sie fordert erneut eine lebenslange Verwahrung für den Vierfachmörder.
Am 13. Dezember kam es zum Prozess vor dem Aargauer Obergericht. Dieses entschied, dass der Vierfachmörder von Rupperswil ordentlich verwahrt wird, aber keine ambulante Massnahme (Therapie) erhält.
Thomas N. wohnte der Berufungsverhandlung nicht bei. Sein Gesuch, in dem er darum bat, von den Gerichtsverhandlungen dispensiert zu werden, wurde gutgeheissen.
Staatsanwältin Barbara Loppacher ist zufrieden mit dem Urteil des Obergerichts.

Vierfachmord Rupperswil – von der Tat bis zum Urteil: Am 21. Dezember 2015 wird Rupperswil zum Schauplatz eines der grausamsten Mordfälle in der Schweizer Kriminalgeschichte.

SEVERIN BIGLER