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Vierfachmörder Thomas N. muss nicht vor dem Aargauer Obergericht erscheinen – ein umstrittener Entscheid.
Thomas N., 35, ist ein rätselhafter Mensch: Als seine Tat, der Vierfachmord von Rupperswil, bekannt war, stellte man sich ihn als «Bestie» vor. Doch vor dem Lenzburger Bezirksgericht trat im Frühling kein Monster auf, sondern ein höflicher junger Mann. Nun konnte man sich ihn plötzlich als Kollegen im Fussballclub vorstellen. Selbst die Profis, die Psychiater, hatten Mühe, sein Inneres zu beurteilen. Sie erstellten widersprüchliche Diagnosen.
Mit Spannung war deshalb der zweite Auftritt von N. in der Öffentlichkeit erwartet worden. Wie wird er sich am 13. Dezember an der Verhandlung vor dem Aargauer Obergericht geben? Wird er glaubhaft machen können, dass man ihm mit einer Therapie helfen sollte, anstatt ihn zwingend für immer wegzusperren? Man wird es nicht erfahren.
Thomas N. bat darum, an der zweitinstanzlichen Verhandlung nicht teilnehmen zu müssen. Der Gerichtspräsident bewilligte sein Gesuch. Deshalb werden die Fachleute unter sich bleiben: die Psychiater, die Staatsanwältin, die Verteidigerin und die Richter.
Die Strafprozessordnung definiert: «Die Verfahrensleitung kann die beschuldigte Person auf ihr Gesuch hin vom persönlichen Erscheinen dispensieren, wenn diese wichtige Gründe geltend macht und wenn ihre Anwesenheit nicht erforderlich ist.» Das Obergericht hält die Begründung geheim. Verteidigerin Renate Senn schweigt.
Denkbar ist folgende Argumentation: N. könnte psychisch angeschlagen sein und geltend machen, unter dem Medienrummel zu leiden. Seine Anwesenheit könnte als nicht erforderlich eingestuft werden, weil die Schuldfrage geklärt ist. Es geht nur noch darum, welche Verwahrung und welche Therapie angemessen sind.
Eine Oberrichterin eines anderen Kantons sagt: «Ich kann den Entscheid nicht nachvollziehen. Bei derart schwerwiegenden Delikten will ich mir einen persönlichen Eindruck des Menschen machen.» Dies sei für sie wichtig, um die Therapierbarkeit einzuschätzen. Diese Frage könne nicht vollständig an die Psychiater delegiert werden.
Normalerweise fordert die Anklagebehörde eine Anwesenheit des Täters. Als die Strafprozessordnung kantonal geregelt war, konnten die Staatsanwälte in der Regel bei einer Dispensation mitreden. In der nationalen Strafprozessordnung von 2011 gibt es diese Möglichkeit nicht mehr. Die Aargauer Staatsanwaltschaft teilt mit, sie habe keine Stellung zum Gesuch nehmen können.
Thomas N. ist nicht der erste prominente Täter, der sich vor dem Gang vor Gericht drückt. Der Ökoterrorist Marco Camenisch und der Sarasin-Whistleblower Reto T. zum Beispiel liessen sich beide aus gesundheitlichen Gründen von Verhandlungen dispensieren. Speziell am Fall Rupperswil ist allerdings, dass die Verhandlung nur wegen Thomas N. stattfindet. Hätte er nicht Berufung eingelegt, wäre das Urteil jetzt rechtskräftig und er hätte seine Ruhe.
Der Zürcher Verteidiger Valentin Landmann sagt: «Die gesamte Verteidigungsstrategie ist rational nicht nachvollziehbar.» Als Verteidiger hätte er Thomas N. geraten, das Urteil zu akzeptieren. Mehr könne er nicht herausholen. Doch nun sei auch eine Verschärfung denkbar. Eine zweite Verhandlung zu verlangen, aber nicht daran teilzunehmen, findet Landmann seltsam.
Nicht nur der Täter, auch die Verteidigerin gibt Rätsel auf.