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Kanton Aargau
Die Zahl Rentner, die ihren Führerausweis abgeben mussten, ist im letzten Jahr um mehr als ein Viertel gestiegen. Sind Aargauer Strassenverkehrsamt und Ärzte zu streng?
National- und Ständerat unterstützen eine parlamentarische Initiative von Aargauer SVP-Nationalrat Maximilian Reimann: Die Altersgrenze für die regelmässige medizinische Abklärung der Fahrtauglichkeit von Senioren soll heraufgesetzt werden.
Dass der Anstoss, Autofahrer künftig erst ab 75 statt 70 alle zwei Jahre zum Gesundheitscheck aufzubieten, von einem Aargauer Politiker kam, ist wahrscheinlich kein Zufall. 2005 war das Strassenverkehrsamt in Kritik geraten. Ein 82-Jähriger fuhr in Brugg eine 15-jährige Velofahrerin tot. Wie sich herausstellte, hätte er den Führerausweis längst abgeben müssen. Er war auf einem Auge blind und litt unter beginnender Altersdemenz, rutschte bei der Fahrtauglichkeitsprüfung aber durch.
Seither wird immer wieder der Verdacht laut, man habe nach diesem tragischen Vorfall überdreht und im Aargau würden nun die älteren Autofahrer drangsaliert und regelrecht systematisch aus dem Verkehr gezogen.
Auf den ersten Blick scheinen die neusten Zahlen des Bundesamts für Strassen diesen Verdacht zusätzlich zu nähren. Johannes Michael Baer, der Leiter des Aargauer Strassenverkehrsamts, weist ihn dennoch weit von sich und sieht in der Statistik zu den Administrativmassnahmen im Strassenverkehr vielmehr eine Bestätigung für die Befürchtung, dass die Verkehrssicherheit unter dem Erfolg der Initiative von Maximilan Reimann leiden wird.
Schweizweit mussten 2016 fast 7000 über 70-Jährige den Führerausweis abgeben. Das bedeutet eine Steigerung um 14 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Aargau war die Zunahme aber noch grösser: 832 über 70-jährigen Autofahrern wurde hier der Ausweis weggenommen, eine Zunahme der Entzüge um sage und schreibe 27 Prozent in einem einzigen Jahr.
Die Begründung Krankheit/Gebrechen für einen Ausweisentzug steht zwar nicht in direktem Zusammenhang mit dem Alter, trifft aber bei Senioren naturgemäss häufiger zu als in den jüngeren Alterskategorien. Und hier fällt der Aargau ebenfalls deutlich aus dem Rahmen: Von den insgesamt 8053 Ausweisentzügen im letzten Jahr erfolgten über 13 Prozent wegen Fahruntauglichkeit aufgrund von Krankheit/Gebrechen. Im schweizerischen Mittel wurden weniger als 7 Prozent der Ausweisentzüge so begründet.
Sind das nicht klare Indizien für eine über Gebühr harte Gangart gegenüber Senioren im Strassenverkehr? Der Chef des Aargauer Strassenverkehrsamts sagt: «Nein». Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen weist Johannes Michael Baer auf eine Problematik bei der Vergleichbarkeit der Zahlen hin: Die Meldepraxis der Kantone ist unterschiedlich. Begeht jemand eine grobe Verkehrsregelverletzung und es stellt sich dann noch heraus, dass der Betreffende gesundheitlich gar nicht fahrtauglich war, wird der Ausweisentzug in der Statistik des Bundes hier (zum Beispiel) unter der Begründung «Nichtbeachten von Signalen» und dort eben unter «Krankheit/Gebrechen» registriert.
Zum anderen würden die Administrativbehörden in manchen Kantonen recht offensiv auf die Möglichkeit aufmerksam machen – um nicht zu sagen, Senioren das nahe legen – den Fahrausweis freiwillig abzugeben. Wer diesem Rat folgt, erscheint nicht in der Statistik der Ausweisentzüge. Im Aargau handhabe man das nicht so, was dann zu mehr Verfahren mit einem Ausweisentzug führt.
Entscheidender ist für Baer ein anderer Punkt: Betrachtet man die Entwicklung der Ausweisentzüge von Senioren in den letzten Jahren, verläuft die Kurve für den Aargau sogar etwas flacher als die für die ganze Schweiz. Vergleicht man zum Beispiel die Zahlen von 2016 mit denen von 2014, ergibt sich gesamtschweizerisch eine Zunahme um 21,6 und für den Aargau nur von 12,7 Prozent.
Und setzt man die Zahl der Ausweisentzüge in Relation zur demografischen Entwicklung, die es mit sich bringt, dass auch auf den Strassen immer mehr Ältere unterwegs sind, kann man erst recht nicht von einer dramatischen Zunahme sprechen.
Hier setzt der Vorstoss von SVP-Nationalrat Reimann denn auch an: In anderen Ländern ohne vertrauensärztliche Untersuchung weise die Unfallstatistik bei automobilen Senioren keine wesentlichen Unterschiede zur Schweiz auf, die Senioren seien heute länger fit und man könne es getrost ihrer Eigenverantwortung überlassen, wann sie sich nicht mehr ans Steuer setzen sollten. Für Strassenverkehrsamt-Chef Baer zeigt die Erfahrung aber: Nach dem ersten Gesundheitscheck mit 70 geben rund 8 Prozent den Fahrausweis ab – ob freiwillig oder nicht. Bei der zweiten und dritten Untersuchung mit 72 und 74 seien es jeweils 6 bis 7 Prozent.
Bietet man nun die Autofahrer erst mit 75 zur vertrauensärztlichen Untersuchung auf, heisst das: Von den laufend zahlreicher werdenden Senioren, die am Steuer sitzen, ist jeder fünfte gar nicht fit genug dafür.
Darum sprach sich der Regierungsrat in der Vernehmlassung im vergangenen Dezember auch gegen die Heraufsetzung der Altersgrenze aus: Sie werde sich negativ auf die Verkehrssicherheit auswirken, und weil mit steigender Tendenz zu Demenzerkrankungen ab 70 die Einsichtsfähigkeit sinke, werde es zu weniger freiwilligen Verzichten und noch mehr zwangsweisen Ausweisentzügen als heute kommen.