Ausweisentzüge
Zu alt für die Strasse: Über 800 Aargauer Senioren aus dem Verkehr gezogen

Die Zahl Rentner, die ihren Führerausweis abgeben mussten, ist im letzten Jahr um mehr als ein Viertel gestiegen. Sind Aargauer Strassenverkehrsamt und Ärzte zu streng?

Urs Moser
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Im Kanton Aargau nahm die Zahl der Ausweisentzüge bei Senioren innert eines Jahres um 27 Prozent zu.

Im Kanton Aargau nahm die Zahl der Ausweisentzüge bei Senioren innert eines Jahres um 27 Prozent zu.

Walter Schwager

National- und Ständerat unterstützen eine parlamentarische Initiative von Aargauer SVP-Nationalrat Maximilian Reimann: Die Altersgrenze für die regelmässige medizinische Abklärung der Fahrtauglichkeit von Senioren soll heraufgesetzt werden.

Dass der Anstoss, Autofahrer künftig erst ab 75 statt 70 alle zwei Jahre zum Gesundheitscheck aufzubieten, von einem Aargauer Politiker kam, ist wahrscheinlich kein Zufall. 2005 war das Strassenverkehrsamt in Kritik geraten. Ein 82-Jähriger fuhr in Brugg eine 15-jährige Velofahrerin tot. Wie sich herausstellte, hätte er den Führerausweis längst abgeben müssen. Er war auf einem Auge blind und litt unter beginnender Altersdemenz, rutschte bei der Fahrtauglichkeitsprüfung aber durch.

Seither wird immer wieder der Verdacht laut, man habe nach diesem tragischen Vorfall überdreht und im Aargau würden nun die älteren Autofahrer drangsaliert und regelrecht systematisch aus dem Verkehr gezogen.

Auf den ersten Blick scheinen die neusten Zahlen des Bundesamts für Strassen diesen Verdacht zusätzlich zu nähren. Johannes Michael Baer, der Leiter des Aargauer Strassenverkehrsamts, weist ihn dennoch weit von sich und sieht in der Statistik zu den Administrativmassnahmen im Strassenverkehr vielmehr eine Bestätigung für die Befürchtung, dass die Verkehrssicherheit unter dem Erfolg der Initiative von Maximilan Reimann leiden wird.

Die Tücken der Statistik

Schweizweit mussten 2016 fast 7000 über 70-Jährige den Führerausweis abgeben. Das bedeutet eine Steigerung um 14 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Aargau war die Zunahme aber noch grösser: 832 über 70-jährigen Autofahrern wurde hier der Ausweis weggenommen, eine Zunahme der Entzüge um sage und schreibe 27 Prozent in einem einzigen Jahr.

Die Begründung Krankheit/Gebrechen für einen Ausweisentzug steht zwar nicht in direktem Zusammenhang mit dem Alter, trifft aber bei Senioren naturgemäss häufiger zu als in den jüngeren Alterskategorien. Und hier fällt der Aargau ebenfalls deutlich aus dem Rahmen: Von den insgesamt 8053 Ausweisentzügen im letzten Jahr erfolgten über 13 Prozent wegen Fahruntauglichkeit aufgrund von Krankheit/Gebrechen. Im schweizerischen Mittel wurden weniger als 7 Prozent der Ausweisentzüge so begründet.

Sind das nicht klare Indizien für eine über Gebühr harte Gangart gegenüber Senioren im Strassenverkehr? Der Chef des Aargauer Strassenverkehrsamts sagt: «Nein». Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen weist Johannes Michael Baer auf eine Problematik bei der Vergleichbarkeit der Zahlen hin: Die Meldepraxis der Kantone ist unterschiedlich. Begeht jemand eine grobe Verkehrsregelverletzung und es stellt sich dann noch heraus, dass der Betreffende gesundheitlich gar nicht fahrtauglich war, wird der Ausweisentzug in der Statistik des Bundes hier (zum Beispiel) unter der Begründung «Nichtbeachten von Signalen» und dort eben unter «Krankheit/Gebrechen» registriert.

Zum anderen würden die Administrativbehörden in manchen Kantonen recht offensiv auf die Möglichkeit aufmerksam machen – um nicht zu sagen, Senioren das nahe legen – den Fahrausweis freiwillig abzugeben. Wer diesem Rat folgt, erscheint nicht in der Statistik der Ausweisentzüge. Im Aargau handhabe man das nicht so, was dann zu mehr Verfahren mit einem Ausweisentzug führt.

Entscheidender ist für Baer ein anderer Punkt: Betrachtet man die Entwicklung der Ausweisentzüge von Senioren in den letzten Jahren, verläuft die Kurve für den Aargau sogar etwas flacher als die für die ganze Schweiz. Vergleicht man zum Beispiel die Zahlen von 2016 mit denen von 2014, ergibt sich gesamtschweizerisch eine Zunahme um 21,6 und für den Aargau nur von 12,7 Prozent.

Und setzt man die Zahl der Ausweisentzüge in Relation zur demografischen Entwicklung, die es mit sich bringt, dass auch auf den Strassen immer mehr Ältere unterwegs sind, kann man erst recht nicht von einer dramatischen Zunahme sprechen.

Sicherheit leidet

Hier setzt der Vorstoss von SVP-Nationalrat Reimann denn auch an: In anderen Ländern ohne vertrauensärztliche Untersuchung weise die Unfallstatistik bei automobilen Senioren keine wesentlichen Unterschiede zur Schweiz auf, die Senioren seien heute länger fit und man könne es getrost ihrer Eigenverantwortung überlassen, wann sie sich nicht mehr ans Steuer setzen sollten. Für Strassenverkehrsamt-Chef Baer zeigt die Erfahrung aber: Nach dem ersten Gesundheitscheck mit 70 geben rund 8 Prozent den Fahrausweis ab – ob freiwillig oder nicht. Bei der zweiten und dritten Untersuchung mit 72 und 74 seien es jeweils 6 bis 7 Prozent.

Bietet man nun die Autofahrer erst mit 75 zur vertrauensärztlichen Untersuchung auf, heisst das: Von den laufend zahlreicher werdenden Senioren, die am Steuer sitzen, ist jeder fünfte gar nicht fit genug dafür.

Darum sprach sich der Regierungsrat in der Vernehmlassung im vergangenen Dezember auch gegen die Heraufsetzung der Altersgrenze aus: Sie werde sich negativ auf die Verkehrssicherheit auswirken, und weil mit steigender Tendenz zu Demenzerkrankungen ab 70 die Einsichtsfähigkeit sinke, werde es zu weniger freiwilligen Verzichten und noch mehr zwangsweisen Ausweisentzügen als heute kommen.

Umfrage: Sollen Autofahrer ab einem gewissen Alter ihre Fahrtüchtigkeit in einer Fahrschule überprüfen lassen?

Andrin Flütsch, Kaisten «Von Zeit zu Zeit wäre es schon sinnvoll, wenn sich ältere Menschen noch einmal in ein Fahrschulauto setzen würden. Die Fahrfähigkeit nimmt mit dem Alter stark ab. Oftmals merkt man im Strassenverkehr, dass ältere Menschen langsam und unsicher fahren.»
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Markus Kunz, Frick «Ich kenne viele, die auch mit über 80 Jahren sehr gut Autofahren. Es ist übertrieben, ältere Menschen in der Fahrschule auf ihre Eignung zu testen. Diese würde nur den Staatsapparat aufblähen. Stattdessen sollte an die Eigenverantwortung der älteren Autofahrer appelliert werden, wenn diese merken, dass sie unischer werden.»
Hermann Senn, Rheinfelden «So etwa ab 80 Jahren wäre es sinnvoll, wenn man sich zu einem Fahrlehrer ins Auto setzt und seine Fahrfähigkeit überprüfen lässt. Ich habe viele ältere Leute in meinem Bekanntenkreis und frage mich bei einigen, ob es nicht besser wäre, wenn diese auf das Autofahren verzichten würden.»
Nadine Gerber, Wallbach «Ich bin dafür, ab einem gewissen Alter Fahrstunden einzuführen, bei dem die älteren Fahrer auf dem neusten Stand gehalten werden. Hierbei sollte auch gegebenenfalls das Billett entzogen werden können. Allerdings unterscheidet sich die Fahrfähigkeit von älteren Menschen erheblich. Deswegen ist ein Obligatorium heikel.»

Andrin Flütsch, Kaisten «Von Zeit zu Zeit wäre es schon sinnvoll, wenn sich ältere Menschen noch einmal in ein Fahrschulauto setzen würden. Die Fahrfähigkeit nimmt mit dem Alter stark ab. Oftmals merkt man im Strassenverkehr, dass ältere Menschen langsam und unsicher fahren.»

az