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Verena Keller war die erste Tätowiererin im Zürcher Milieuquartier. Jetzt arbeitet sie in Oberentfelden. Für einen Termin bei ihr muss man bis zu acht Monaten warten.
«Ich habe selbst keine Tattoos, ausser diesem einen hier am Bein.» Die 53-jährige Tätowiererin Verena Keller steht in ihrem Tattoo-Studio «Tattoos and Art» in Oberentfelden und zeigt auf ihre Wade, wo eine verschnörkelte Blume prangt.
Der Raum ist geräumig und hell, in der Mitte steht die Liege, wo sich Tattoo-Affine unter die Nadel legen. «Ich wüsste auch nicht, wo ich eins machen würde und wie es aussehen sollte. Ein Fotograf wird ja auch nicht unbedingt gerne selbst fotografiert», sagt die unscheinbare Künstlerin mit grauem, kurzem Haar und prüfendem Blick hinter grüner Brille.
Keine typische Tätowiererin – sie erinnert eher an eine Psychologin. Die Einschätzung ist nicht mal so falsch, bevor sie vor 22 Jahren ihr erstes Tattoo stach, war sie als Psychiatrieschwester und Therapeutin tätig. Die Leidenschaft zur Kunst hatte sie jedoch schon immer. So besuchte sie 1985 die Schule für freie Gestaltung in Zürich.
Ihr erstes Tattoo war gleichzeitig der Anfang ihrer Karriere. Mit zittriger Hand hatte sie dieses auf die eigene Haut an der Wade gestochen. «Ich war so aufgeregt, weil mir so viel am Tätowieren lag, ich wollte das unbedingt machen», sagt sie. Heute ist ihr klar, dass sie nicht ins Tattoo-Business eingestiegen wäre, wäre dieses Erstwerk misslungen.
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Mit dem Tätowieren kam die Bauerntochter aus dem Thurgau zum ersten Mal in Amerika in Berührung. Zu dieser Zeit wurden Tätowierungen mit Rockern und Gruftis assoziiert. Erst als die damals 28-Jährige an der ersten Street Parade 1992 mit einer Airbrush-Pistole Tribals auf Haut malte, änderte sich ihre Einstellung gegenüber der nebulösen Kunst.
Die verschnörkelten Motive, genannt Tribals, waren zu dieser Zeit sehr trendy. Sie erhielt viele positive Rückmeldungen auf die Kunstwerke, gemalt mit vergänglicher Farbe. Darauf entschied sie sich, die Farbe in Zukunft auf der Haut zu verewigen. «Noch nie habe ich einen so intensiven Wunsch gehabt, etwas zu tun», sagt sie und erzählt von ihrem ersten Studio, welches sie 1995 im für seine Lebensfreude bekannten Kreis 5 in Zürich eröffnete.
Nur ein paar Wochen lang hatte sie einem Tätowierer über die Schulter geschaut, ehe sie den Schritt zum eigenen Business wagte und so die erste Frau in Zürich mit einem eigenen Tattoo-Studio wurde. «Als Frau, die harmlose Tribals stechen wollte, war ich in der von den Hells Angels dominierten Szene nicht akzeptiert», sagt die heute 53-Jährige mit ruhiger Stimme. Auch ihre Eltern waren anfangs gar nicht glücklich über ihre Entscheidung und hatten sogar Mühe, mit Bekannten über ihren Beruf zu reden.
Im ersten halben Jahr arbeitete sie nur nebenbei als Tätowiererin. Den Durchbruch schaffte sie, als ein Freund von ihr einen Bericht über ihre Arbeit in der Frauenzeitschrift «Annabelle» veröffentlichte. «Viele Frauen hatten damit geliebäugelt, ein Tattoo stechen zu lassen, doch die Tattoos hatten einen anstössigen Ruf», erzählt Verena Keller.
Ihr Studio hob sich ab von der Hells-Angels-Szene und so gewann sie Kunden, die mit dem Verruchten nichts zu tun haben wollten. «Zuerst habe ich Delfine, Rosen, Bären oder Löwen gestochen, dann kam die Tribal-Zeit. Jetzt würde ich so etwas nicht mehr stechen», so die Künstlerin.
Sie zeigt ihre Werke in ihrem neuen Fotobuch, dass sie auch verkauft. «Mein Lieblingswerk ist immer das, welches ich gerade gestochen habe – ich bin dann richtig verliebt in das Tattoo.» Sie fährt mit dem Finger über das Bild von einem älteren Herrn, der sich beide Arme tätowieren liess.
«Viele haben zu ihm gesagt, das gehe doch nicht in dem Alter, aber ich finde es lässig», meint sie unbeirrt. Ihre Werke sind alle einzigartig, sie zeichnet keines zweimal. «Klar mache ich mal die gleiche Rose, aber die Komposition ist immer anders», erklärt sie. Die Tattoos sind geprägt von feinen Linien, Schattierungen und Elementen aus der Natur wie Wellen, Blumen und Tieren. «Früher wollte ich mal eine berühmte Malerin werden, heute ist die Haut meine Leinwand – das ist doch ein verrückter Gedanke», sagt Verena begeistert.
Mit knapp 40 dachte Verena Keller nochmals über einen Tapetenwechsel nach und absolvierte nebenberuflich eine Ausbildung als Multimedia Producerin. Doch sie wurde sich dann noch mehr bewusst, dass das Tätowieren ihre Berufung ist. «Ich hätte nie gedacht, dass ich etwas so lange machen werde», sagt sie nachdenklich. Sie sei sehr stolz, dass schon über tausend Menschen ihre Hautbilder tragen.
Unter dem Tisch hört man «Lenny», die Hundedame von Verena Keller, knurren. «Sie ist am Träumen», sagt Verena Keller und lacht. Seit drei Jahren hat die Künstlerin ihr Studio im «Bürsti»-Areal in Oberentfelden. Nach den 14 Jahren in Zürich zog sie aufs Land. Zuerst arbeitete sie einige Jahre in Seon, dann bezog sie vor drei Jahren das Studio in Oberentfelden. Der Austausch mit den anderen Kunstschaffenden auf dem «Bürsti»-Areal sei toll, es entstünden auch ab und zu Gemeinschaftswerke, schwärmt Verena Keller.
«Es gefällt mir sehr gut auf dem Land. In meiner Freizeit kann ich so meiner anderen Leidenschaft, dem Fotografieren, nachgehen. Das mache ich oft im Wald, wenn ich mit ‹Lenny› spazieren gehe», sagt die vielseitige Künstlerin. Das Fotografieren ist aber nicht nur ein Hobby, neben dem Tätowieren macht Verena Keller auch Fotoshootings. Vor fünf Jahren hat sie die CAP Fotoschule in Zürich besucht.
«Beim Tätowieren sind für mich die Menschen das Wichtigste. Ich habe grossen Respekt vor dem Vertrauen, welches sie mir entgegenbringen», sagt Verena Keller mit eindringlichem Blick. Sie interessiere sich für alle Menschen. So faszinieren sie gerade auch nicht ganz perfekte Menschen oder Haut mit Narben.
Beim Tätowieren kann Verena Keller ihren therapeutischen Hintergrund gut gebrauchen. Menschenkenntnisse seien sehr wichtig. In der Beratung schalte sie alle Sensoren ein und spüre, was der Kunde für ein Mensch sei. So könne sie ein Tattoo entwerfen, das ihm gefalle. Dies scheint Verena Keller gut zu gelingen, sie hat viele Stammkunden und für einen Termin muss man bis zu acht Monate warten.