Homeschooling
Unterricht zuhause: CVP-Binder will Eltern stärker kontrollieren

CVP-Grossrätin Marianne Binder stört sich beim Homeschooling an der «höchst oberflächlichen Qualitätskontrolle» im Aargau. Nun reicht sie erneut einen Vorstoss ein, um allfällige religiöse Motive zu ergründen.

Manuel Bühlmann
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Grossrätin Marianne Binder: «Mich stört, dass beim Unterricht zu Hause zu wenig genau hingeschaut wird.»

Grossrätin Marianne Binder: «Mich stört, dass beim Unterricht zu Hause zu wenig genau hingeschaut wird.»

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Wer im Aargau seine Kinder zu Hause unterrichten möchte, muss verhältnismässig kleine Hürden überwinden. Weder ein Lehrpatent noch eine Bewilligung ist dazu nötig; eine Meldung zwei Wochen vor Schulbeginn reicht aus.

Liberaler Aargau: So machen es die Nachbarkantone

Der Aargau kennt in Bezug auf Homeschooling eine der liberalsten Regelungen des Landes. Das bestätigt der Blick in die angrenzenden Kantone: Überall ist eine Bewilligung der Behörden erforderlich. In Zug gibt es derzeit keinen einzigen Fall von Homeschooling. Die Hürden sind sehr hoch: Einerseits ist ein Lehrdiplom auf der entsprechenden Stufe nötig, andererseits wird die Bewilligung nur dann erteilt, wenn ein objektiver Grund vorliegt, etwa weil die Familie mit einem internationalen Zirkusprojekt umherreist. Ähnlich sind die Anforderungen in den Kantonen Baselland, Luzern und Solothurn. Erforderlich sind eine stufengerechte Lehrerausbildung und ein schriftliches Gesuch mit einer ausführlichen Begründung. In Bern benötigen die Eltern zwar eine Bewilligung, aber kein Lehrpatent. Das Volksschulgesetz sieht vor, dass die unterrichtenden Eltern von einer pädagogisch ausgebildeten Person angeleitet werden. Die Gründe werden in Bern genauso wenig erhoben wie im Kanton Zürich. Dort gilt die Regel: Wer länger als ein Jahr zu Hause unterrichten will, braucht eine pädagogische Ausbildung. (Mbü)

An der «höchst oberflächlichen Qualitätskontrolle» stört sich CVP-Grossrätin Marianne Binder. In einem Postulat fordert sie den Regierungsrat auf, sechs Massnahmen zu prüfen. Diese reichen von obligatorischen Leistungschecks bis zu unangemeldeten Besuchen.

Grundtendenz ihrer Forderungen: Unterrichtende Eltern müssen stärker kontrolliert werden. Ein Verbot wolle sie nicht, betont Binder. Stattdessen fordere sie Klarheit über die Beweggründe der Eltern. Bis anhin wird im Kanton Aargau nicht nach dem Warum gefragt.

Auf eine Interpellation Binders antwortete der Regierungsrat im Sommer: Er könne über die Gründe keine Aussagen machen. Die Zahl der zu Hause unterrichteten Schüler ist zwischen dem Schuljahr 2010/11 und 2013/14 von 44 auf 97 gestiegen – das sind rund 0,1 Prozent aller Kinder in Aargauer Volksschulen.

«Ungerechtfertigtes Misstrauen»

Von Lehrern höre sie immer wieder, dass sich viele Eltern aus religiösen Überlegungen für Homeschooling entscheiden würden, sagt Binder. «Doch ich möchte alle Gründe für den Entscheid wissen.» Ihr gehe es mit dieser Bestandsaufnahme darum, Transparenz zu schaffen. «Das müsste auch im Interesse der Homeschooler sein.» Als Kampfansage will Binder ihr Postulat aber nicht verstanden wissen.

Im Lager der Homeschooling-Befürworter kommen Binders Forderungen dennoch schlecht an. Von einem «Misstrauensvotum» spricht Willi Villiger, Präsident des Vereins Bildung zu Hause Schweiz. Der Aargauer Oberstufenlehrer, der seine Kinder daheim unterrichtet, stört sich insbesondere an den unangekündigten Besuchen: «Das wäre ein Eingriff in die Privatsphäre und zeugt von ungerechtfertigtem Misstrauen.»

Auch eine Erhebung der Gründe für Homeschooling kritisiert er scharf, falls diese Motive dem Bewilligungsentscheid zugrunde gelegt würden. «Abgesehen davon, dass es nicht zu den Aufgaben des Staates gehöre, die Gesinnung seiner Bürger auszuschnüffeln, dürften negative Bewilligungs-Entscheide leicht anfechtbar sein», sagt Villiger. Ausserdem würde sich wohl schnell herumsprechen, welche Motive man besser nicht in den Vordergrund rücken sollte, um eine Bewilligung zu erhalten. «Strategisches Antwortverhalten ist damit vorprogrammiert.»

Schwierige Suche nach Gründen

Johannes Reich warnt vor zu hohen Erwartungen an eine Befragung der Eltern. Der Assistenzprofessor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Zürich hält dieses Vorgehen für wenig erfolgsversprechend. «Die Anhänger der Homeschooling-Bewegung haben mit dem Image der religiösen Fanatiker zu kämpfen. Entsprechend ist nicht davon auszugehen, dass sie religiös-fundamentalistische Beweggründe offenlegen würden.»

Das Phänomen der sozialen Erwünschtheit würde die Suche nach den Motiven schwierig machen. So liefert auch Reichs Aufsatz aus dem Jahr 2012 – eine der wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Homeschooling – keine abschliessenden Antworten. Klar ist für ihn dennoch: «Religiöse und weltanschauliche Gründe spielen beim Homeschooling eine zentrale Rolle.» Die Bewegung besteht allerdings aus verschiedenen Strömungen – «die religiös-fundamentalistische ist eine davon».

Mit Blick auf die Religionsfreiheit hält Staatsrechtler Reich fest, dass religiöse Gründe grundsätzlich legitim seien. Die Frage sei, vor welchen Einflüssen die Kinder geschützt werden müssten. «Eine klare Linie zu ziehen, ist in einer offenen Gesellschaft aber schwierig. Schliesslich ist die religiöse Erziehung bis 16 Jahre grundsätzlich den Eltern überlassen.»

Marianne Binder befürchte wohl, dass religiöse Familien ihre Kinder indoktrinieren, sagt Willi Villiger. «Ich kenne aber niemanden, der die Kinder unter der Käseglocke hält. Die Eltern wissen, dass ihre Töchter und Söhne irgendwann in der Berufswelt bestehen müssen und ihnen Scheuklappen deswegen schaden würden.»

CVP-Grossrätin Binder betont, bis anhin unterstelle sie niemandem irgendetwas. «Mich stört aber, dass beim Heimunterricht zu wenig genau hingeschaut wird.» In öffentlichen Schulen sei etwa Gegenstand der Diskussion, wenn Kinder nicht in den Turnunterricht oder ins Lager geschickt werden – beim Homeschooling kümmere sich hingegen niemand darum. «Alle Kinder müssen den gleichen Zugang zu Bildungsinhalten haben, alles andere ist unfair.»