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Kanton Aargau
Ein Schüler stürzte vor vier Jahren von einer Felswand. Heute stehen deshalb zwei Lehrer in Laufenburg vor Gericht. Das sorgt bei der Lehrerschaft für Verunsicherung.
Am 2. Juli 2013 wandern die fünf ersten Klassen der Bezirksschule Frick an ihrem Heimattag in einem Sternmarsch zum Grillplatz Kreuzkopf beim Cheisacherturm. 104 Schülerinnen und Schüler machen sich auf den Weg, begleitet und betreut von 10 Lehrpersonen. Sie starten in den Dörfern rund um den Cheisacherturm und erreichen kurz nacheinander um die Mittagszeit ihr Ziel auf der Jurahöhe.
Die Klasse 1b unter der Leitung des Klassenlehrers und einer Begleitperson marschierte von Hornussen aus zum Grillplatz Kreuzkopf. Noch vor dem Essen setzen sich vier Schüler der Klasse in den Wald ab, um Nielen zu suchen. Dabei entdecken sie eine steile Böschung und eine Ansammlung von Steinen, die wie eine Höhle aussieht.
Die vier Buben beschliessen, erst eine Wurst zu bräteln und danach die Böschung und die allfällige Höhle näher zu erkunden. Nach dem Essen wollen zwei der vier Buben nicht mehr zur Böschung; sie versuchen, den beiden anderen von der geplanten Klettertour abzuraten. Doch die lassen sich nicht aufhalten. Die Tragödie nimmt ihren Lauf.
Wer als Lehrperson eine Schulreise, eine Exkursion oder gar ein Lager plant, muss sehr sorgfältig vorgehen. Denn die Lehrpersonen sind verantwortlich für die körperliche und psychische Unversehrtheit der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen. So besagt es das Gesetz.
Am Anfang steht die sorgfältige Rekognoszierung des Ausfluggebietes. Dabei sollte die Lehrperson auch allfällige Gefahrenquellen erkennen. Die Wege dürfen die Schülerinnen und Schüler nicht überfordern; die Witterung muss stets im Blick bleiben. Schüler, Eltern und Schulleitung müssen adäquat und rechtzeitig informiert und genügend, passende und allenfalls ausgebildete Begleitpersonen gesucht werden. Zur Standardausrüstung gehören etwa Mobiltelefone, die Notfallapotheke und ein allen bekanntes und funktionierendes Notfallkonzept.
Dass die Kinder ausreichend gegen Sonne, Wind und Wetter geschützt sind, dafür müssen die Eltern sorgen; ob die Kinder dann aber auch wirklich ausflugstauglich ausgerüstet sind, muss wiederum die Lehrperson überprüfen.
Bereits gibt es auch zahlreiche Merkblätter und Checklisten, ja sogar umfangreiche Handbücher, die das Planen einer hieb- und stichfesten Schulreise ermöglichen sollen. Doch das Risiko, dass trotz aller Voraussicht und umsichtiger Planung ein Unfall passiert, bleibt bestehen. «Der Anspruch an die absolute Sicherheit ist nicht mehr einlösbar», sagt Manfred Dubach, Geschäftsführer des Aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes.
Die Tendenz, dass der Schulbetrieb zunehmend unter öffentlicher Kontrolle stehe und Lehrpersonen ständig darauf achten müssen, dass sie nicht gegen ein Gesetz verstossen, habe Konsequenzen für die Schule, erklärt Dubach: «Die Lehrpersonen wollen nichts riskieren und bleiben sicherheitshalber im Schulzimmer. Das geht auf Kosten der Kinder, die dadurch wertvolle Erfahrungen nicht machen können.»
Dubach verweist auch auf die ständig zunehmende Reglementierung, die sich im schulischen Alltag gar nicht mehr umsetzen lässt. «Wenn das Recht die Vernunft hinter sich lässt, wirds schwierig», sagt Dubach.
Hans-Jürg Roth, Leiter Rechtsdienst beim Kanton, glaubt indes nicht, dass die juristischen Verfahren gegen Lehrpersonen in den letzten Jahren stark zugenommen haben, obschon Schüler und ihre Angehörigen in Strafprozessen in ihrer Rolle als Opfer respektive als Angehörige von Opfern jetzt mehr Rechte hätten. Er ortet eher ein gesellschaftliches Phänomen: «In der globalisierten Welt erhält heute jedes an sich lokale Ereignis durch die digitalen Medien rasch nationale oder gar internationale Bekanntheit.» Schon früher habe es immer wieder Gerichtsverfahren gegen Lehrpersonen gegeben, aber sie seien von der Öffentlichkeit viel weniger wahrgenommen worden.
Lehrpersonen, die von einem ausserordentlichen oder tragischen Ereignis in ihrem Schulalltag betroffen sind, finden, wenn sie das möchten, unmittelbare Unterstützung bei einem Care-Team. Die Schulpflege muss sich als Arbeitgeber um die betroffenen Lehrpersonen kümmern, etwa, indem sie dafür sorgt, dass ein Anwalt deren Interessen wahrnimmt.
«Solche Situationen sind für Lehrpersonen sehr belastend, auch wenn das Verfahren letztlich in einen Freispruch münden sollte», sagt Dubach.
Doch zurück auf den Rastplatz Kreuzkopf an jenem 2. Juli 2013: Die beiden Buben entfernen sich unbemerkt von der rastenden Gruppe, steigen erneut in die Böschung, klettern im gefährlichen Abhang.
Plötzlich verliert der eine der beiden beim Aufstieg den Halt, rutscht den steilen Hang hinunter, stürzt dann 12 Meter senkrecht über eine Felswand, wo er in unwegsamem Gelände schwer verletzt liegenbleibt. Die Bergung erweist sich als kompliziert und gelingt erst nach 35 Minuten. Eine Erstversorgung in der steilen Böschung durch die Rettungssanitäter ist nicht möglich. Der bewusstlose Bub muss mit einer Seilwinde geborgen werden und wird schliesslich mit dem Helikopter ins Inselspital Bern überführt, wo er eine Woche später seinen schweren Verletzungen erliegt.
Die Staatsanwaltschaft eröffnet eine Untersuchung und kommt nach umfangreichen Abklärungen zum Schluss, dass sowohl dem organisierenden Lehrer als auch dem Klassenlehrer des verunglückten Buben fahrlässiges Verhalten vorzuwerfen sei.
Beide Beschuldigten haben zwar vieles richtig gemacht und den Anlass gut vorbereitet; sie haben auch keine festgeschriebenen Regeln verletzt. Aber nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hat der Klassenlehrer seine Schüler zu wenig über die konkrete Gefahr, die von der steilen Böschung ausging, informiert. Und er habe seine Schüler allgemein zu wenig überwacht; er hätte merken müssen, dass sich zwei Schüler vom Rastplatz entfernen.
Dem Organisator des Ausflugs wirft die Staatsanwaltschaft vor, er habe sowohl Schüler als auch Lehrer und Begleitpersonen nicht genügend über die gefährliche Böschung informiert, er habe es zudem verpasst, vor der Böschung eine Lehrperson mit dem klaren Auftrag zur Überwachung zu positionieren, und schliesslich habe er ganz allgemein die Schülerinnen und Schüler zu wenig überwacht.
Durch dieses fahrlässige Verhalten sei der Tod des 12-jährigen Schülers mitverursacht worden, argumentiert der Staatsanwalt und formuliert die entsprechenden Anträge: Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassung für beide Beschuldigte, bedingte Geldstrafen und Bussen von je 2000 Franken.
Am Donnerstag wird der Fall vor dem Bezirksgericht Laufenburg verhandelt.