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Kanton Aargau
Das Rahmenabkommen mit der EU wird eines der heissen Wahlkampf-Themen im Herbst. Im Streitgespräch sagen die vier Aargauer Ständeratskandidaten der Bundesratsparteien, warum sie Bedenken haben, was der Bundesrat falsch macht und wie der Vertrag allenfalls noch zu retten ist.
Die drei Aargauer Nationalräte Cédric Wermuth, Thierry Burkart und Hansjörg Knecht eilen vom Bundeshaus hinüber zur «Welle 7», das Gebäude beim Hauptbahnhof Bern, wo die Aargauer CVP-Präsidentin Marianne Binder schon in einem der luftig-farbigen Sitzungszimmer wartet. Es ist Dienstagmorgen, Frühjahrssession. Die Zeit für ein Streitgespräch über das umstrittene Rahmenabkommen nehmen sich die vier Politiker gerne. Sie kandidieren im Herbst alle für den Ständerat und wollen sich früh positionieren in einem der zurzeit wichtigsten Dossiers der Schweizer Politik.
Cédric Wermuth: Nein, die Bevölkerung hat ganz einfach das Recht, zu wissen, wo wir stehen. Das Verhältnis zu Europa wird nicht nur das Wahlkampfjahr, sondern auch die nächsten Jahre dominieren. Wer den Vertrag so will, wie er derzeit vorliegt, also mit dem Angriff auf die Lohnschutzmassnahmen, schickt Aargauer Schreiner und Gipser direkt in die Sozialhilfe.
Wermuth: Die SP war und ist immer offen für Gespräche und war nie kategorisch gegen das Rahmenabkommen. Aber so, wie es jetzt auf dem Tisch liegt, kann ich ihm nicht zustimmen.
Thierry Burkart: Das ist eine realpolitische Einschätzung von mir. Bevor die Sozialpartner sich nicht geeinigt haben, ist das Abkommen innenpolitisch nicht mehrheitsfähig. Über allem steht ein stabiles, bilaterales Verhältnis mit der EU. Das ist fundamental für die Schweiz und insbesondere für den Kanton Aargau, der 30 Prozent seines Handels alleine mit Deutschland macht. Zurzeit ist aber im Zusammenhang mit dem Rahmenabkommen vieles noch unklar. Im Vordergrund stehen die Unionsbürgerrichtlinie und die flankierenden Massnahmen. Auch das Aargauer Gewerbe muss davon ausgehen können, dass in der Schweiz für alle, auch für ausländische Konkurrenz, gleich lange Spiesse gelten.
Burkart: Bevor ich einen Vertrag beurteile, will ich zuerst die offenen Fragen geklärt haben. Auch die FDP sagt nicht bedingungslos Ja.
Hansjörg Knecht: Dieser Vertrag ist das Ende unserer direkten Demokratie. Faktisch werden wir gezwungen, automatisch EU-Recht zu übernehmen, ohne noch etwas sagen zu können. Der Bundesrat ist selber nicht überzeugt von diesem Vertrag, sonst hätte er ihn unterschrieben und Stellung genommen.
Knecht: Unsere Regierungsräte sagen nicht einfach Ja, sondern «Ja, aber es braucht Anpassungen». Ihre Position ist zudem dem Kollegialitätsprinzip geschuldet. Jedenfalls sehe ich keine grundsätzliche Differenz: Auch ich bin für stabile Beziehungen zur EU. Dies aber nicht durch Erpressung, sondern auf Augenhöhe unter gleichberechtigten Partnern.
Marianne Binder: Wir passen unsere Position nicht wie andere ständig neu an und sagten deshalb von Anfang an Ja zur Weiterentwicklung des bilateralen Weges, aber nicht um jeden Preis. Dieses Rahmenabkommen heisst die CVP in der heutigen Form nicht gut.
Binder: Dass die Bürgerinnen und Bürger einmal mehr zu wenig eingebunden werden. An der Urne entscheidet nicht Economiesuisse, die für den Vertrag weibelt, sondern Leute, die eigene Sorgen haben. Das haben wir bei der Masseneinwanderungsinitiative gesehen.
Binder: Der Bundesrat spielt eine ganz seltsame Rolle. Er sagt nicht, was er will. Wie kann er so überzeugen?
Wermuth: Im Gegenteil, wir nehmen das Volk ernst. Wir stellen ja mit Begeisterung fest, dass im Wahljahr plötzlich alle für Lohnschutz sind. Nach der Masseneinwanderungsinitiative wollten die Bürgerlichen die flankierenden Massnahmen noch aufweichen, die SVP wollte sie abschaffen.
Binder: Das stimmt nicht. Auch das Gewerbe ist klar für den Lohnschutz!
Wermuth: Jedenfalls sind Lohnschutzmassnahmen das Fundament der Schweizer Europapolitik. Wenn das nicht hält, bricht die Mehrheit für gute Beziehungen mit der EU zusammen.
Burkart: Alle versuchen jetzt das Abkommen für die Wahlen zu nutzen. Cédric Wermuth will sein sozialistisches Süppchen kochen. Ich bin aber nicht bereit, unser Verhältnis zur EU auf dem Altar des Wahlkampfes zu opfern. Dafür ist das Thema für unser Land zu wichtig. Ich warne zudem: Gleichzeitig mit dem Rahmenabkommen steht die Kündigungsinitiative der SVP vor der Tür. Deren Annahme würde das Ende der bilateralen Verträge bedeuten.
Binder: Bei der SVP-Initiative geht es um alles oder nichts. Da sind die offenen Fragen zum Rahmenabkommen im Vergleich dazu noch Details.
Knecht: Das Hauptproblem ist nicht in erster Linie der Lohndruck, sondern die hohe Zuwanderung. Dadurch steigen Bodenpreise, Infrastrukturkosten etc.
Knecht: Die Guillotineklausel wird im Rahmenabkommen noch verstärkt. Das heisst, man kann die einzelnen Bereiche, wie die Personenfreizügigkeit, nicht mehr separat verhandeln. Deshalb wollen wir die Personenfreizügigkeit auflösen, um die Zuwanderung wieder eigenständig zu steuern.
Wermuth: Auch hier hat der Bundesrat ein Chaos angerichtet und es verpasst, den Verhandlungsspielraum in dieser Frage auszuloten.
Burkart: Es ist schon seltsam, dass der Bundesrat noch nicht Stellung genommen hat. Der Bundesrat muss zum Beispiel darlegen, wie er die Geltung des sozial- und aufenthaltsrechtlichen Teils der Unionsbürgerrichtlinie für die Schweiz ausschliesst.
Knecht: Da ist die FDP widersprüchlich! Sie sagt jetzt schon Ja zum Vertrag und will dann nachträglich die wichtigen Fragen klären.
Burkart: Ich rede hier als eigenständiger Ständeratskandidat.
Knecht: Das Rahmenabkommen zementiert die Personenfreizügigkeit. Die EU wollte Sozialhilfe und Aufenthaltsrecht für EU-Bürger schon lange in den Vertrag einbinden. Wenn man das Abkommen mal hat, kann die Schweiz nichts mehr dagegen tun.
Binder: Die Schweiz hat die bilateralen Verträge wie kein anderes Land in Europa immer gestützt. Will man diese Offenheit erhalten, muss man die Bevölkerung bei der Debatte von Anfang an mitnehmen, sonst gibt es ein Debakel wie damals beim EWR. Sowieso darf das Rahmenabkommen gar nicht unterzeichnet werden, bevor über die Kündigungsinitiative entschieden ist. Diese hängt nämlich wie ein Damoklesschwert über allem.
Knecht: Am bilateralen Verhältnis und dem Rahmenvertrag hat die EU mindestens ein so grosses Interesse wie die Schweiz. Der Bundesrat knickt viel zu früh ein. Wir müssen unsere Stärken schützen und zum Beispiel eine eigene Wirtschaftspolitik machen können. Wenn wir alles gleich machen mit der EU, gehen wir als kleines Land unter.
Wermuth: Weder noch. Dieser Entscheid bleibt in beiden Fällen beim Volk. Schon nach dem EWR-Nein haben die einen gesagt, der bilaterale Weg führe in die EU, andere meinten, er bewahre uns vor dem EU-Beitritt. Richtig ist, dass das Rahmenabkommen die Quadratur des Kreises ist. Wenn man im EU-Binnenmarkt dabei sein will, ohne aber politisch mitbestimmen zu wollen, bekommt man in gewissen Bereichen automatisch ein Problem mit der demokratischen Souveränität.
Burkart: Ja, der Zugang zum Binnenmarkt ist fundamental für unseren Wohlstand. Ob wir das mit oder ohne Rahmenvertrag regeln können, müssen wir nach Klärung der offenen Fragen beurteilen.
Binder: Ich finde den Grundsatz richtig, die Beziehungen mit der EU auf stabilere Füsse zu stellen. Aber mir fehlt die Abwägung, was sich mit dem Vertrag verbessert im Vergleich zu heute. Im Kanton Aargau ist gerade ein Vorstoss hängig, der nach den Folgen für unseren Standort fragt.
Wermuth: Positiv sehe ich etwa die Idee des Schiedsgerichts, welche das Rahmenabkommen vorsieht. Wichtig ist, dass der Lohnschutz, wie wir ihn heute kennen, gewahrt werden kann.
Knecht: Das Schiedsgericht ist doch nur eine Tarnung. Faktisch entscheidet der Europäische Gerichtshof. Die Schweiz muss nachvollziehen oder wird bestraft.
Knecht: Nein, nicht wirklich.
Wermuth: Wir gehen nicht zusammen mit der SVP. Es sind die Neoliberalen aus Bern und Brüssel, die zusammen die flankierenden Massnahmen angreifen. Das ist eine rote Linie für uns. Meine Skepsis ist proeuropäisch. Wir wollen gute Beziehungen zur EU, wir wollen einen guten Rahmenvertrag, die SVP will gar keinen. Aber wenn der Lohnschutz wegfällt, stehen wir vor einem Scherbenhaufen.
Burkart: Der Bundesrat muss sich schon den Vorwurf gefallen lassen, keine Führung zu übernehmen und damit viele Fragen offenzulassen. Damit erfolgen die Stellungsbezüge der Parteien auf unsicherer Grundlage.
Knecht: Ich hätte vom Bundesrat eine Leaderrolle erwartet.
Knecht: Als sich der Bundesrat um eine Stellungnahme gedrückt hat, war sein Vorgänger Wirtschaftsminister.
Wermuth: Die simpelste Lösung ist, wenn die flankierenden Massnahmen und der Service public nicht betroffen wäre vom Rahmenabkommen.
Burkart: Es gibt durchaus Spielraum. Drei Punkte müssten geklärt werden. Erstens muss die Anwendung des sozial- und aufenthaltsrechtlichen Teils der Unionsbürgerrichtlinie ausgeschlossen werden. Zweitens müssen die flankierenden Massnahmen auch im Interesse unserer KMU geklärt werden. Drittens muss festgelegt werden, dass eine Vertragskündigung inklusive Guillotineklausel als Ausgleichsmassnahme ausgeschlossen ist, wenn die Schweiz sich weigert, neues EU-Recht zu übernehmen.
Binder: Die CVP will eine gesetzliche Grundlage, die Parlament und Stimmvolk eine frühzeitige Mitbestimmung bei der dynamischen Rechtsentwicklung ermöglicht. So nimmt man die Bedenken vor dem Souveränitätsverlust und das Gefühl, der EU ausgeliefert zu sein.
Knecht: Wir müssen diesen Vertrag ablehnen und dann weiter verhandeln. Es braucht ein Abkommen abgestützt auf unsere direkte Demokratie und nicht auf die parlamentarische Demokratie der EU.
Burkart: Bis dann sollte der Bundesrat Stellung genommen und erste Gespräche mit der EU aufgenommen haben. Wir haben aber keine Eile.
Wermuth: Der Bundesrat wird versuchen, Zeit zu kaufen für innen- und aussenpolitische Verhandlungen, und nicht so bald Position beziehen.
Knecht: Es wird noch länger gehen. Vor 2020/21 kommt es kaum zu einer Volksabstimmung.
Binder: Das Rahmenabkommen wird den Wahlkampf dominieren. Ich bin zuversichtlich, dass auch die EU kein Interesse hat, ein für sie wichtiges Land wie die Schweiz im Herzen von Europa zu destabilisieren, und dass sie die direkt-demokratischen Prozesse richtig einordnet. Sie muss erkennen, dass in der Schweiz die Bevölkerung mitentscheidet.
- Der Grundsatz: Das Rahmenabkommen legt fest, wie die Schweiz Neuerungen des EU-Rechts übernimmt. Bis jetzt müssen die bilateralen Verträge mit der Schweiz bei jeder Regeländerung in der EU nachverhandelt werden. Ein Rahmenabkommen soll das vereinfachen, mehr Rechtssicherheit geben und der Schweiz den Zugang zum EU-Markt sichern.
- Knacknuss Lohnschutz: Die flankierenden Massnahmen, welche festlegen, dass Arbeitnehmer aus der EU Schweizer Lohn- und Arbeitsbedingungen einhalten, sind im Rahmenabkommen nicht explizit erwähnt. Es heisst aber, die Schweiz müsse die EU-Entsende- und Durchsetzungsrichtlinie übernehmen. Zudem akzeptiert die EU eine Voranmeldefrist für ausländische Firmen von vier Tagen. Heute liegt diese bei acht Tagen.
- Knacknuss Schiedsgericht: Wenn sich die EU und die Schweiz in einem Streitpunkt nicht einigen können, gibt es neu ein Schiedsgericht, bestehend aus jeweils einem Richter aus der Schweiz, der EU sowie einem unbeteiligten dritten Land. Dreht sich der Streit um EU-Recht, muss der Europäische Gerichtshof eine Auslegung machen. Das Schiedsgericht kann die Verhältnismässigkeit von allfälligen Sanktionen überprüfen.
- Knacknuss Unionsbürgerrecht: Die EU wollte die Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie ins Rahmenabkommen reinschreiben, die Schweiz wollte sie ausschliessen. Nun ist die Richtlinie gar nicht erwähnt. Unklar ist, ob EU-Bürger in der Schweiz künftig schneller Sozialhilfe beanspruchen könnten. (roc)