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Kanton Aargau
Organisationen fordern eine bessere Regelung der Sozialhilfe – für Gemeinden ist es zu früh für eine Bilanz.
Der Souverän im Kanton Bern hat am Sonntag vor einer Woche sowohl eine Senkung der Sozialhilfe als auch deren Ausbau abgelehnt. Das Nein zur Kürzung habe auch für den Aargau Signalwirkung. So reagierte das Netzwerk Sozialer Aargau, dem unter anderem der Aargauische Katholische Frauenbund, Caritas Aargau und Pro Senectute Aargau angehören (die AZ berichtete). Das Netzwerk kritisiert, die Verteilung der Soziallasten sei im Aargau heute schon unbefriedigend. Es verlangt «eine wirksamere Poollösung», sagt Fabienne Notter von der Caritas als Sprecherin des Netzwerks.
Die Mitglied-Organisationen seien nicht einverstanden, verdeutlicht Notter, dass der Grosse Rat bei der Beratung des neuen Finanzausgleichs vor wenigen Jahren nicht dem Vorschlag der Regierung gefolgt ist. Diese wollte die 40'000 Franken übersteigenden Kosten pro Sozialdossier und Jahr mit einem Teilpooling auf alle Gemeinden verteilen. Der Grosse Rat erhöhte diese Grenze auf 60'000 Franken. Dadurch werden jetzt Gemeinden mit vielen teuren Dossiers weiterhin überdurchschnittlich belastet, kritisiert Notter: «Es wäre für sie entlastend, wenn der Grosse Rat diese Teilpoolinggrenze auf 30'000 Franken senken würde.» Zudem sollen beim eigentlichen Soziallastenausgleich die Normwerte (durchschnittliche Sozialhilfequote und Sozialhilfeausgaben) jährlich neu festgelegt werden, fordert Notter weiter.
Es sei wichtig, dass die öffentliche Diskussion über Sozialhilfe nicht anhand von Einzelfällen geführt werde, sondern dass deren Qualität und Wirkung fachlich weiterentwickelt würden. Gemeinden mit hohen Sozialhilfekosten seien auf die Solidarität der «reichen» Gemeinden angewiesen, betont Notter. Rechnet sie sich wirklich Chancen aus, da die jetzige Regelung nach einem Volks-Ja doch erst seit 2018 gilt? Notter: «Das wird sich zeigen. Aber es ist wichtig, dass soziale Aufgaben, die einzelne Gemeinwesen überfordern, gemeinsam getragen werden. So lässt sich auch die unfaire Polemik gegen Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger reduzieren.»
Welche Erfahrungen macht man in den Gemeinden mit dem Soziallastenausgleich? Sehen sie bereits Handlungsbedarf? Renate Gautschy, Präsidentin der Gemeindeammännervereinigung, hat diese Frage am Dienstag an einer Vorstandssitzung besprochen. Man habe nach so kurzer Zeit noch keine Anhaltspunkte und keine Rückmeldungen von Gemeinden über die konkrete Wirkung des neuen Finanzausgleichs im Sozialbereich, sagt Gautschy jetzt. Zumal sich mit dem neuen Finanzausgleich sehr viel ändere, etwa indem es keine «neutrale Zone» von Gemeinden mehr gibt, die weder bezahlten noch etwas bekamen. Heute ist jede Gemeinde Zahlerin oder Empfängerin: «Die komplexen Wechselwirkungen all dieser Änderungen können wir noch nicht beurteilen. Wir warten den ersten Wirkungsbericht ab, den der Kanton spätestens für 2023 verspricht.»
Keinen Grund, die erst seit 2018 geltende Regelung abzuändern, sieht Martina Bircher, Frau Vizeammann von Aarburg und SVP-Grossrätin. Aarburg hat die höchste Sozialhilfequote im Aargau. Wenn jemand eine unfaire Regelung zu spüren bekommt, dann wohl Aarburg. Wieso sieht Bircher keinen Änderungsbedarf? Die Regel, dass die Kosten pro Person und Jahr, die 60'000 Franken überschreiten, von allen Gemeinden gemeinsam getragen werden, gehe darauf zurück, dass man die übermässige Belastung einer Gemeinde durch einen besonders teuren Fall verhindern wollte, sagt Bircher. Rupperswil und Mägenwil waren deswegen lange in den Schlagzeilen. So kostete die fürsorgerische Unterbringung eines jungen Mannes, der als Jugendlicher eine junge Frau erschlagen hatte, nach dessen Strafverbüssung seine Wohngemeinde Mägenwil 264'000 Franken im Jahr. Das belastete die kleine Gemeinde mit mehreren Steuerfussprozenten.
Profitiert denn Aarburg von der jetzigen Lösung? Die 60'000-Franken-Regelung schränke nur minim ein, sagt Bircher. Derzeit habe Aarburg zwei Fälle, die mehr als diese Summe kosten. Der neue Finanzausgleich brachte Aarburg trotzdem eine enorme Entlastung. Bircher: «Die Soziallasten einer Gemeinde werden in die Berechnung der Ausgleichszahlungen einbezogen. Auch dank dieser Neuregelung bekommen wir derzeit 4,7 Millionen Franken Finanzausgleich, sehr viel mehr als früher.» So habe Aarburg letztes Jahr gar einen Überschuss von 1 Million Franken erwirtschaften können, sagt Bircher: «Ohne den neuen Finanzausgleich würde bei uns ein Loch von 3,7 Millionen Franken klaffen. Ich bin dankbar für diese Lösung. Sie ist gut. Wir haben bei 17 Millionen Franken Steuereinnahmen allein für die Sozialhilfe Kosten von 5,5 Millionen Franken. Zum Vergleich: 1 Steuerprozent bringt bei uns 150'000 Franken.» Bircher plädiert dafür, zuerst den neuen Lastenausgleich und dessen Entwicklung zu beobachten, bevor schon wieder über Änderungen diskutiert wird.
Einen besonders teuren Fall hatte Aarburg auch schon. Als eine alleinerziehende eritreische Mutter wegen der Geburt eines Kindes in ein Mutter-Kind-Haus ging und nach der Geburt dort blieb, kostete das Aarburg monatlich 25'000 Franken. Sie hätte damals als zuständige Gemeinderätin eine Kostengutsprache für weitere sechs Monate à je 25'000 Franken unterschreiben sollen, sagt Bircher. Sie weigerte sich. Denn es habe nichts dagegen gesprochen, dass diese Familie – wie zuvor – wieder eigenständig in einer Wohnung leben könne. So geschah es dann auch.
Bircher: «Ich hätte sagen können, was solls, die Kosten über 60'000 Franken zahlen künftig ja alle. So etwas kann ich aber nicht. Egal, wer am Schluss zahlt, wir sind verpflichtet, sorgsam mit Steuergeldern umzugehen.»