Auswanderer
Schon vor 150 Jahren flohen Tausende Aargauer vor dem Elend

Die Hoffnung auf ein besseres Leben ohne Armut trieb im 19. Jahrhundert zahlreiche Menschen auf die gefährliche Reise aus ihrer Heimat. Die Aargauer flohen und versuchten ihr Glück in der Fremde.

Manuel Bühlmann
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Beginn einer langen Reise ins Ungewisse: Auswanderer in Rothrist.

Beginn einer langen Reise ins Ungewisse: Auswanderer in Rothrist.

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Die Bevölkerung im Aargau wächst und wächst – auch wegen der Zuwanderung. Das war nicht immer so: Zeitweise war der Aargau gar der einzige Kanton, dessen Bevölkerung schrumpfte. Tausende Aargauer kehrten im 19. Jahrhundert ihrer Heimat den Rücken und versuchten ihr Glück in der Fremde.

Allein von 1851 bis 1855 flüchteten über 8000 Aargauer vor Armut und Elend – rund 4 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung, wie das Historische Lexikon der Schweiz vorrechnet.

Drei Hauptgründe führten im ganzen Land zu einer grossen Auswanderungsbewegung: Bevölkerungsdruck, Armut, Unterbeschäftigung. Wirtschaftlich angespannte Phasen wie die Landwirtschaftskrise in den 1840er-Jahren verstärkten die Auswanderung zusätzlich.

Ein Mittel gegen die Armut

Die Zahl der Armen, die auf finanzielle Unterstützung angewiesen waren, stieg an und brachte einige Gemeinden in Bedrängnis. Einen Ausweg erhofften sie sich von geförderten oder gar verordneten Auswanderungen.

Auch in Rothrist (das damals noch Niederwil hiess) versuchte man vor 160 Jahren, auf diese Weise den finanziellen Kollaps abzuwenden. 305 Kinder, Frauen und Männer mussten die Heimat verlassen: Im Februar 1855 begab sich jeder zehnte Einwohner auf eine gefährliche Reise ins Ungewisse.

46 Tage waren sie auf einem Segelschiff unterwegs Richtung USA, auf dem Zwischendeck, mit äusserst beschränktem Platz. Nur 293 der 305 Auswanderer erreichten ihr Ziel, wie der «Wiggertaler» schreibt.

Der Druck zu handeln war – wie in anderen Aargauer Gemeinden – gross: Rothrist hatte mit den Folgen des starken Bevölkerungswachstums, mehrerer Missernten und der fortschreitenden Mechanisierung im Textilgewerbe zu kämpfen. Diese verdrängte die Heimarbeit – eine wichtige Einkunft vieler Familien. Die Armut breitete sich aus, die Gemeinde verschuldete sich und stand vor dem Ruin.

In ihrer neuen Heimat wurden die Flüchtlinge wenig freundlich begrüsst, wie der «Tages-Anzeiger» anhand von Medienberichten aus der damaligen Zeit aufzeigte. «Noch mehr Almosenempfänger aus der Schweiz – wieder eine Schiffsladung auf dem Weg», titelte die «New York Times» im März 1855.

Die Meldung bezog sich auf jene Menschen, die kurz davor in Rothrist aufgebrochen waren. Die Begeisterung über die Neuankömmlinge hielt sich in Grenzen – diese seien «sicherlich keine wünschenswerte Ergänzung zu unserer Bevölkerung». Die amerikanischen Behörden warfen den Kantonen vor, unerwünschte Bürger abzuschieben.

Strafgefangene, Diebe, Faulenzer und Arme kämen so in die USA. Damit die Auswanderer nicht völlig mittellos in ihr neues Leben starten mussten, gaben die Aargauer Behörden armen Auswanderern Geld mit auf den Weg: 40 bis 50 Franken, wie der Historiker Berthold Wessendorf in seinem Werk zur überseeischen Auswanderung aus dem Kanton Aargau schreibt.

Aargauer Zeitung