Unwetter im Aargau
Rentnerpaar vor dem Ertrinken im Lift gerettet: der stille Held von Oftringen

Das Unwetter im Aargau hat berührende Geschichten geschrieben. Stephan Gaberthüel rettete ein Rentnerpaar vor dem Ertrinken – und zerschnitt sich dabei beide Hände.

Philippe Pfister
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Mit den blossen Händen befreite Stephan Gaberthüel das ältere Ehepaar Jana (M.) und Boja Nekys (r.) aus dem überfluteten Lift.
5 Bilder
Lebensretter von Oftringen
Mit den Händen riss Gaberthüel die Tür zum Lift auf, der sich mit Wasser füllte.
Die Rettungsaktion hat an fast allen Fingern blutige Spuren hinterlassen.
Ein Prost auf den Retter: Die Nekys bedanken sich bei Stephan Gaberthüel. «Dank ihm können wir am 8. Juli unseren zweiten Geburtstag feiern», sagen sie.

Mit den blossen Händen befreite Stephan Gaberthüel das ältere Ehepaar Jana (M.) und Boja Nekys (r.) aus dem überfluteten Lift.

Niklaus Wächter

Gedankenverloren steht Stephan Gaberthüel auf der Strasse in seinem Quartier in Oftringen und schaut den vorbeiziehenden Wolken nach. Kräftig zieht er an seinem Stumpen und bläst den Rauch in den Sommerwind. Immer wieder geht ihm durch den Kopf, was ihm am letzten Samstag widerfahren ist. «Nie mehr», sagt er, «nie mehr möchte ich so etwas noch einmal durchmachen.» Stephan Gaberthüel ist der stille Held von Oftringen. Er hat am letzten Samstag zwei Menschen vor dem sicheren Ertrinkungstod bewahrt.

Der 52-jährige SBB-Mitarbeiter ist am späten Nachmittag mit seiner Lebenspartnerin Irene Hug in seiner Wohnung im 2. Stock am Dorfbach 3, als sich der Himmel über Zofingen verdüstert. Die beiden schauen besorgt aus dem Fenster. Hagel setzt ein. Irene Hug zückt ihr Handy und macht ein Bild.

«Schon da war es mir nicht mehr geheuer», sagt sie. Dann öffnet der Himmel seine Schleusen. Binnen Minuten steht das ganze Quartier mit den neuen Mehrfamilienhäusern unter Wasser. «Wir müssen jetzt mal in den Keller», sagt Stephan Gaberthüel zu seiner Partnerin. «Nachsehen, was da los ist.»

Ehepaar im Lift gefangen

Unten angekommen, waten die beiden schon knöcheltief im Wasser; Irene Hug schiesst erneut ein paar Bilder. Auf dem Foto ist später ein richtiger Sturzbach zu sehen, der sich in den Keller ergiesst. «Innerhalb kürzester Zeit stand ich schon mit den Knien im Dreckwasser», erinnert sich Stephan Gaberthüel. Was retten? Vielleicht den Raclette-Ofen? Die Lage wird brenzlig. «Bloss raus!», denkt er. Ihm wird klar, dass sich das Kellergeschoss schnell mit Wasser füllen wird.

Bevor sich Gaberthüel in Sicherheit bringt, hört er ein Rufen und Klopfen. Es kommt aus dem Liftschacht. Jana (77) und Boja (84) Nekys, die direkt über ihm wohnen, sind aus dem 3. Stock mit dem Lift ins Kellergeschoss gefahren, um Nachschau zu halten. Unten öffnet sich die Tür nicht mehr; der Lift macht keinen Wank. «Wir waren gefangen», sagt Boja Nekys. «Und bis zur Hüfte im Wasser. Von oben lief immer mehr Wasser in den Lift.»

Rettung mit blutigen Händen

Als Gaberthüel das verzweifelte Klopfen hört, weiss er sofort: «Hier sind Menschen in Lebensgefahr.» Ist sogar seine Freundin im Lift? Werkzeug hat er nicht. Zeit schon gar nicht. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als die Tür im Halbdunkel mit den blossen Händen aufzureissen. Woher er die Kraft dafür nimmt, weiss er im Nachhinein nicht. «Ich wusste bloss: Die Leute müssen raus – egal, wie!» Und tatsächlich schafft er das schier Unmögliche: Das Rentnerpaar kann aus dem Lift flüchten, bringt sich in Sicherheit. Wären die beiden länger gefangen gewesen, wären sie mit Sicherheit ertrunken – Keller und Lift füllen sich innert kurzer Zeit bis unter die Decke mit Wasser.

Beide Hände des Retters sind blutig: Gaberthüel hat sich bei seiner Rettungsaktion massiv verletzt. Er muss schnell ins Spital, in den Notfall. Kurze Zeit später sitzt ihm ein Arzt gegenüber, spritzt ihm Schmerzmittel in die zerschnittenen Finger und näht die Wunden zu. «Es tat höllisch weh, aber er machte einen Top-Job», sagt Gaberthüel, der mindestens bis nächsten Freitag nicht arbeiten kann. Bis auf den Daumen sind alle Finger eingebunden. Seinen Job als Spezialhandwerker im Bahntechnik-Center Hägendorf wird er frühestens übernächste Woche wieder antreten können.

Anstossen auf den Retter

So richtig scheinen in den ersten Tagen weder Retter noch Gerettete zu realisieren, welches Drama sich am Samstag in dem Mehrfamilienhaus am Dorfbach abgespielt hat und wie viel Glück im Spiel war – zu tief sitzt der Schock. «Ich war unter – wie sagt man?», fragt Gaberthüel seine Partnerin. «Adrenalin», antwortet diese. «Du hattest einen extremen Adrenalinstoss.» Erst am Mittwoch fällt die Spannung so richtig von ihm ab. Die Szenen vom Samstag holen ihn wieder ein. Tränen fliessen. Irene Hug umarmt ihn.

Gleichentags klingelt es an der Wohnungstür. Jana und Boja Nekys bringen sechs Flaschen Primitivo vorbei. Plötzlich stehen zwei Menschen vor ihm, die er zuvor nur vom Sehen gekannt hat – und die ihm ihr Leben verdanken. Die beiden haben eine Karte geschrieben. «Dank Ihnen können wir immer am 8.7. unseren zweiten Geburtstag feiern.» Stephan Gaberthüel lächelt; die Hand schütteln kann er den beiden nicht. Auch viel sagen kann er nicht. Er habe nur getan, was er habe tun müssen.

Am Freitag sassen die drei bei Stephan Gaberthüel auf dem Balkon. Man sagt sich Du. Stösst mit einem Glas Rotwein an. «Ein Hoch auf unseren Retter», sagt Jana Nekys. Und Boja Nekys ergänzt: «Wenn alles aufgeräumt ein, laden wir Stephan auf ein feines Nachtessen ein.»