Erlinsbach
«Niemand würde sich bei Rotkäppchen mit dem Wolf identifizieren»

Der Psychiater Josef Sachs referierte vor dem Business Club Mittelland über Gewalt. Die Identifikationsfiguren der Jugend hätten sich verändert, sagt er. Mitverantwortlich sei auch Gewalt in Computerspielen.

Aline Wüst
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Der forensische Psychiater Josef Sachs.

Der forensische Psychiater Josef Sachs.

EMANUEL PER FREUDIGER

Der forensische Psychiater Josef Sachs weiss viel über die Wurzeln der Gewalt. Aus der Ferne und von Angesicht zu Angesicht analysiert er Gewaltverbrechen.

Der Business Club Mittelland, ein Verband von Unternehmern, Führungskräften und Politikern, lud den Aargauer Psychiater darum zum Referat vor dem Essen im Erlinsbacher «Hirschen».

Sachs kam, referierte, schockierte – und beruhigte. «Die Schädel von Steinzeitmenschen zeigen, dass rund die Hälfte der Menschen erschlagen wurde.» Ist das Ausmass der Gewalt heute also halb so schlimm? Nein.

Denn die Formen der Gewalt hätten sich verändert in den letzten Jahren. Und seit den 70er Jahren verzeichnet auch die Schweiz einen zwar langsamen aber kontinuierlichen Anstieg an Gewalttaten.

Eine Welt fern der Realität

Sachs erzählte vom «Fall Boi», wo ein damals Jugendlicher eine Internet-Bekanntschaft mit einem Holzscheit erschlug. Der Täter gamte viel. «Er lebte in einer Welt, die mit der Realität wenig zu tun hatte.»

In Computerspielen werden Figuren, die sterben, wieder lebendig und Jugendliche identifizieren sich mit der Figur, die mordet. Anders in Märchen, die oft auch sehr gewalttätig sind. «Niemand würde sich bei Rotkäppchen mit dem Wolf identifizieren.»

Die Schwierigkeit ist, dass Gewaltprävention sehr früh passieren muss. Haben Kinder bis zum 12. Altersjahr nicht gelernt damit umzugehen, werde es schwierig.

Sie gehören dann oft zu den zwei bis drei Prozent Jugendlichen, die für über 50 Prozent aller Straftaten in diesem Alterssegment verantwortlich sind, erklärte Sachs.

Verantwortlich für die ansteigende Gewalt sei auch, dass die Jugendlichen ihr Körpergefühl verlieren. «Wir haben früher im Wald gespielt. Dort haben wir unsere Grenzen kennen gelernt», sagte Sachs.

Heute spielten Kinder auf sicherheitsgeprüften Robinson-Spielplätzen und würden dort von Sozialpädagogen betreut. «Jugendliche leben ein Secondhand-Leben. Alles was sie tun, wurde bereits für sie vorgekaut», sagt der Psychiater.

Als Folge davon verlieren sie das Gefühl für die eigenen Grenzen. Was muss getan werden gegen die Gewalt?

Auch darauf hatte Sachs eine Antwort: «Wir müssen früh intervenieren, weil ab dem 12. Altersjahr vieles schon zu spät ist.» Ganz ohne Gewalt werde unsere Gesellschaft aber nie sein.