Leitartikel
Steuervorlage: Nichts zu tun, hiesse einen schleichenden Rückschritt zu riskieren

Am 15. Mai wird im Aargau über eine Steuerrevision abgestimmt. SVP, FDP, Die Mitte, GLP und EDU sowie die Wirtschaftsverbände kämpfen für die Vorlage. SP, Grüne, EVP und Gewerkschaften wollen sie bodigen.

Mathias Küng
Mathias Küng
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Am 15. Mai wird im Aargau über eine Steuerrevision abgestimmt.

Am 15. Mai wird im Aargau über eine Steuerrevision abgestimmt.

Emanuel Freudiger

Am 15. Mai entscheiden die Aargauerinnen und Aargauer an der Urne über eine gewichtige kantonale Steuervorlage. Sie besteht aus einer Steuersenkung für Firmen und aus einer Erhöhung des Versicherungsabzugs für Privatpersonen. Beides ist umstritten, am meisten die Steuersenkung für Firmen mit Gewinnen über 250'000 Franken von 18,6 auf 15,1 Prozent. Alle Firmen mit weniger Gewinn haben längst den tieferen Steuersatz.

2019 gab der Aargau schon eine erste Antwort auf die massiv veränderten Rahmenbedingungen bei der Firmenbesteuerung, nachdem frühere Steuerprivilegien nicht mehr möglich sind. Damals senkten Kantone reihum den Gewinnsteuersatz für Firmen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Basel-Stadt etwa ging von 22,2 radikal auf 13 Prozent runter, Nachbar Solothurn senkte in einem zweiten Anlauf auf 15,9, die Nachbarn Luzern und Zug stehen heute bei 12,3 bzw. 12,1 Prozent.

Der Aargau rang 2018/19 noch um einen stabilen Kantonshaushalt und konnte sich eine Senkung nicht leisten. Er beschloss dafür grosszügige Steuerabzüge für Forschung, Entwicklung sowie Patentbox (finanziert ausschliesslich mit Mitteln, die der Bund den Kantonen dafür zur Verfügung stellte). So kann eine Firma, die alle Kriterien erfüllt, im Aargau die Steuern bis auf 11 Prozent drücken.

Für welche Firma aus dem Ausland ist das attraktiv?

Alles in Ordnung also? Leider nicht. Grosse Firmen, die nicht forschen und entwickeln – und davon gibt es viele – zahlen weiterhin 18,6 Prozent. Wenn man rein auf den Steuersatz abstellt, rutschte der Aargau im Kantonsvergleich in schwindelerregendem Tempo aus dem Mittelfeld auf den drittletzten Platz ab. Für welche Firma aus dem Ausland, die in die Schweiz zügeln will, ist das attraktiv? Gewiss, der Steuersatz in Zürich ist gar noch höher als im Aargau. Zürich ist aber als weltweit bekannter Finanz-, Banken-, Ausbildungs- und Forschungsplatz ohnehin attraktiv.

Wenn die Gegner der Vorlage darauf verweisen, dass der Aargau in den Attraktivitätsrankings von UBS und CS ja seit Jahren ganz weit vorn steht, dann stimmt das. Bloss: Was hat es bisher gebracht? Der Aargau ist weiterhin relativ strukturschwach, die Einkommen sind unterdurchschnittlich. Er hat gegenüber anderen Kantonen sogar Terrain verloren. Ungeschönt zeigt ein anderes Ranking, wo er steht: die Finanzausgleichstransfers in den Aargau sind in wenigen Jahren förmlich explodiert.

Der Aargau war und ist kein Treiber im Steuerwettbewerb. Er könnte es sich auch nicht leisten. Er hat aber ein Problem, und er handelt richtig, wenn er wenigstens die Differenz bei den Firmensteuern zu Tiefsteuerkantonen verringert.

So kann er hier ansässige Firmen (und deren Arbeitsplätze) halten, weiter mit Aussicht auf Erfolg für Zuzüge werben und hoffen, dass in andere Kantone verlagerte Gewinne wieder hier versteuert werden. Gewiss gibt es keine Garantie, dass und in welcher Höhe die vom Kanton prognostizierten dynamischen Effekte eintreffen.

Am Schluss würde mehr Geld fehlen

Was aber, wenn der Aargau die Senkung ablehnt und nichts tut? Dann büsst er unmerklich langsam an Terrain ein. Er verlöre da eine Firma, dort eine andere. Am Schluss würde mehr Geld in der Kasse fehlen – dann aber ohne Aussicht auf mögliche positive dynamische Effekte.

Der Kanton hat mit seiner inzwischen prall gefüllten Reservekasse genug auf der hohen Kante, um die ersten schwierigen Jahre nach der Steuersenkung zu überstehen. Er unterstützt finanziell auch vier Jahre lang die Gemeinden massiv. Damit hat er gegenüber Luzern, das 2012 radikal die Steuern senkte und danach massiv unten durch musste, entscheidende Vorteile.

Zudem senkt der Aargau den Steuersatz «nur» auf 15,1 Prozent, nicht auf 12,3 Prozent wie Luzern. Übrigens hat sich Luzern inzwischen erholt. Vor der Steuerhalbierung 2011 kassierte es 141 Millionen Franken Firmensteuern, 2012 sackten sie auf 94 Millionen ab. Und jetzt? 2021 erholten sich die Einnahmen kräftig auf 219 Millionen, also die Hälfte mehr als vor der Senkung. Hier sind die dynamischen Effekte letztlich eingetroffen.

Zur Vorlage gehört auch eine Erhöhung des Versicherungsabzugs. Dieser wurde 21 Jahre lang nicht angepasst, obwohl sich die Krankenkassenprämien seither mehr als verdoppelt haben.

Jahrelang profitierten Kanton und Gemeinden davon, dass den Menschen ein schon lange gerechtfertigter höherer Sozialabzug vorenthalten wurde.

Man bedenke: 2019 und 2020 schrieben die Gemeinden Ertragsüberschüsse von gesamthaft je über 200 Millionen Franken. Auch letztes Jahr gab es reihenweise Überschüsse. Da soll eine inhaltlich völlig gerechtfertigte Entlastung für die Menschen nicht zumutbar sein? Dass diese mit der Steuervorlage bei den Gemeinden um 42 und beim Kanton um 46 Millionen Franken entlastet werden, ist nur recht und billig.

Es stimmt, dass der Mittelstand – zwar nicht in Prozenten, aber frankenmässig – am meisten davon profitiert. Aber warum soll er (und mit ihm die ganze Bevölkerung) nicht wenigstens etwas entlastet werden, derweil derzeit die Nebenkosten für alle durch die Decke gehen?