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In einer mehrteiligen Serie porträtiert die AZ Menschen, die in speziellen Bereichen der Seelsorge tätig sind. Den Auftakt macht Mark Schwyter. Er arbeitet dort, wo andere ihre Strafe absitzen. In seinem Büro hinter Gittern wird über Schuld, Zukunft und Gott gesprochen.
Gefängnisseelsorger Mark Schwyter hat einen Schlüsselbund in der Hand. Das Klimpern hallt im Tunnel unter der Justizvollzugsanstalt Lenzburg (JVA). Schwyter steigt einige Treppen hinauf in das Fünfstern-Gebäude. Hier sieht alles gleich aus: die Wände in Weiss gehalten, mit ein bisschen Holz und Stahl.
In der Mitte des Fünfsterns ist ein Pavillon mit Arbeitsplätzen des Wachpersonals, rund herum vier Flügel mit Zellen auf drei Etagen, ein Flügel mit der Verwaltung. Am Anfang habe er sich oft verirrt, sagt Schwyter, als er die Tür seines Büros aufschliesst. Dort arbeitet er seit knapp einem halben Jahr. Ein Kreuz hängt an der Wand, zusammen mit zwei Ikonen und einem Plakat. Darauf steht: «Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.»
Schwyter zündet eine Kerze an, das mache er immer so bei Gesprächen. Er öffnet das Fenster, für ein bisschen frische Luft. Davor sind Gitter. «In der Gefängnisseelsorge setzt man sich mit existenziellen Fragen auseinander», sagt Schwyter zu Beginn. «Die Menschen hier befinden sich in Krisen und Ausnahmesituationen.» Er ist zu 60 Prozent in der JVA Lenzburg angestellt und für die Seelsorge in der Strafanstalt und im Zentralgefängnis zuständig. Zuvor arbeitete er als reformierter Pfarrer und mit einem kleinen Pensum in einer anderen Strafanstalt.
In Lenzburg teilt er sich das Amt mit einer katholischen Seelsorgerin. Der Reformierte ist Ansprechperson für rund 300 inhaftierte Männer, Frauen und Jugendliche und auch für das Personal. Schwyters Anliegen ist es, den Insassen wertschätzend zu begegnen. «Ich probiere, ihnen zu vermitteln, dass sie immer noch ein Teil der Gesellschaft und nicht von Gott verlassen sind.» Die Insassen können bei Schwyter um eine Audienz bitten, dann ruft er sie zu sich ins Büro. «Viele schätzen den geschützten Raum und auch, dass es hier Kaffee und ein Guetzli gibt.»
Die Themen, die besprochen werden, sind sehr unterschiedlich: «Eine Rolle spielt auch, wo die Personen inhaftiert sind.» Im Zentralgefängnis sind die Untersuchungshäftlinge. «Sie werden plötzlich aus ihrem Leben herausgerissen, dürfen keinen Kontakt zur Familie oder zu Freunden haben und sind 23 Stunden am Tag alleine.»
Zu wissen, dass draussen das Leben weiterläuft, die Kollegen wie jeden Tag zur Arbeit und die Kinder in den Kindergarten gehen, sei für viele das Schlimmste. «Dazu kommt, dass die Untersuchungen im Gange sind und die Insassen nicht wissen, welche Strafe sie bekommen.» Für manche sei der Gefängnisaufenthalt aber auch eine Chance, ihr Leben zu verändern: «Hier kommen die Menschen von der Strasse weg, machen einen Entzug, oder werden nach Jahren wieder ärztlich versorgt.»
In der Strafanstalt sieht es anders aus als im Zentralgefängnis. «Hier sind verurteilte Verbrecher inhaftiert, die eine längere Strafe absitzen müssen. Dann haben sie auch andere Sorgen.» Manchmal gehe es um Probleme mit Mitinsassen, häufig um die Trennung von der Familie. «Und wenn man weiss, dass man hier gar nicht mehr rauskommt, stehen oft Sinn und Ziel des Lebens im Mittelpunkt», sagt Schwyter.
Über die Frage, wie es sich anfühlt, Verbrechern gegenüberzusitzen, denkt der Gefängnisseelsorger lange nach. «Wissen Sie, mir kann hier drin nichts passieren.» Manche Häftlinge seien durch ihren Taten auch selbst traumatisiert: «Eine Katastrophe, man plante es nicht, es passierte trotzdem und jetzt ist man im Gefängnis und muss sich dem Leid stellen, das man selbst angerichtet hat.»
Natürlich komme es auf die Schwere der Tat an: «Bei groben Dingen fange ich schon auch an zu grübeln.» Das Leben sei ungerecht, sagt Schwyter. «Hinter jedem Verbrechen stecken Geschichten. Meist ist in der Kindheit schon einiges schiefgelaufen, die Menschen hatten keine guten Startbedingungen. Fair ist das nicht, aber ändern kann man es auch nicht.»
In seinem Büro, unter gelb gestrichener Decke und dem Kreuz, sässen Menschen, betont der Gefängnisseelsorger. Straftäter als Bestien oder Monster zu betiteln, halte er für einen wenig hilfreichen Abwehrreflex. «Wir sind verrückte Wesen, haben Potenzial zum Guten und zum Schlechten. Die einen schaffen Grossartiges und die anderen entgleisen», sagt der Seelsorger.
Die Religion sei eine Hilfe für manche Insassen. «Sie spendet Kraft, sorgt für Orientierung.» Auf Anfrage gibt Schwyter den Inhaftierten Bibel und Rosenkranz. In den Gesprächen sei Religion aber nicht das Hauptthema. «Manche geben Gott die Schuld an ihrer Misere und lassen Frust ab.» Der Seelsorger will niemandem den Glauben aufdrängen: «Ich bin kein Missionar.» Dennoch sei das gemeinsame Gebet ein wichtiger Teil der Seelsorge. Und wenn ein Angehöriger stirbt und der Inhaftierte die Beerdigung draussen nicht besuchen darf, bietet Schwyter Gedenkfeiern im Gefängnis an.
Der Gefängnisseelsorger hat wieder den Schlüsselbund in der Hand. Er geht zur ehemaligen Malerei der Justizvollzugsanstalt, die vor einigen Jahren umgebaut wurde. Jetzt steht darin eine Orgel, es gibt einen Beamer, zwei dutzend schwarze Stühle und einen Abendmahltisch. An der Wand hängen die Symbole der Weltreligionen. Bei Anfragen besucht ein Imam muslimische Inhaftierte. «Jeden Monat finden rund drei ökumenische Gottesdienste statt.» Die Gefangenen müssen sich dafür anmelden. «Danach gibts Kaffee und ich bringe Kuchen von draussen mit.»
Draussen. Das ist die Welt jenseits von Gittern, Mauern, Stacheldrahtzaun. «Ich bin für die Insassen auch ein Fenster in die Welt. Sie fragen mich zum Beispiel, was sich verändert hat, was läuft, was man an einem schönen Sommerabend unternimmt.»
Pro Woche führt der Gefängnisseelsorger rund 20 Gespräche: «Bei mir kann man über alles sprechen. Das ist wichtig für die, die keine Freunde oder Verwandte haben, denen man sich anvertrauen kann. Ausserdem reduziert Reden auch den Stress.»
Mark Schwyter selbst ist an das Seelsorgegeheimnis gebunden. Er redet mit niemandem über das, was in seinem Büro unter vier Augen besprochen wird. Seine Familie sorgt für den nötigen Ausgleich: «In den verbleibenden 40 Prozent schmeisse ich den Haushalt», sagt der 48-jährige Vater von drei Kindern.
Draussen. Das ist normalerweise auch ein Ziel, das die Inhaftierten erreichen können und werden. Manche haben einen Kalender in der Zelle, auf dem sie jeden Tag ihrer Strafe abhaken. Ist der Tag X in greifbarer Nähe, wird auch die Entlassung zum Thema in den Gesprächen: «Draussen – das kann die Schweiz oder das Heimatland der Inhaftierten sein», so Schwyter. «Draussen haben viele nichts mehr, keinen Job, keine Freunde – und geraten wieder in die Abwärtsspirale.»
Durch die Inhaftierung gehe viel kaputt, das nachher wieder mühsam aufgebaut werden müsse. Der Gefängnisseelsorger bespricht mit den Insassen, wie sie Verantwortung für ihr Tun übernehmen können und ihr Leben auf eine gute Bahn lenken können – «mit Gottes Hilfe». Trotzdem muss sich Mark Schwyter selber immer wieder klarmachen: «Ich kann die Leute nicht retten.»