Michael Derrer ist seit 30 Jahren als Unternehmer in Russland und der Ukraine tätig, spricht beide Sprachen und hat viele Kontakte in Osteuropa. Er erklärt, wie die russische Propaganda funktioniert, welche Zielgruppe sie im Visier hat – und dass bei weitem nicht alle Russinnen und Russen dafür empfänglich sind
Vergangene Woche trat ein Aargauer Bezirksrichter von seinem Amt zurück, weil er den ukrainischen Präsidenten Selenski als «Massenmörder» bezeichnet hatte. Inhalt und Wortwahl zeigen, dass er den Geboten seiner Funktion, sich umfassend und tiefgehend zu informieren und sich massvoll auszudrücken, nicht entsprochen hatte. Auch der Aargauer SVP-Polterer Andreas Glarner schrieb unlängst einen langen Text, in dem er Putins Weltsicht in weiten Zügen übernimmt.
Ich bin überzeugt, dass beide Exponenten Putins Propaganda zum Opfer gefallen sind, die in der Schaffung von Narrativen zur gezielten Beeinflussung versiert ist. Das russische Fernsehen verbreitet eine unheilvolle Mischung von Fakten und Emotionen und ist in der Lage, einen grossen Teil der Bevölkerung zu linientreuer Gefolgschaft zu bewegen. So vertraten einige meiner Bekannten in Moskau bei meinem letzten Besuch im Januar 2022 überraschenderweise die These, dass die UdSSR eigentlich eine gesunde Gesellschaft verkörperte.
Deren Errungenschaften seien erst nach Zerfall durch falsche, aus dem Westen importierte Werte wie Gier, Konkurrenzdenken oder Prostitution zersetzt worden. Und sie sprachen über den Zweiten Weltkrieg, als ob dieses Ereignis nicht drei Generationen zurückläge – der Krieg wurde durch die gelenkten russischen Massenmedien seit Jahren zurück in das Bewusstsein der Menschen geholt, den aus der Geschichte stammenden Wunden in der Seele jedes Russen und jeder Russin zum Trotz.
Für «den Westen» wird eine andere Art von Propaganda eingesetzt. Ein erfolgreiches Modell betreibt der Fernsehsender RT, vormals Russia Today, der in sechs Sprachen ausstrahlt. Kurz gefasst lautet das Konzept «Andersdenkende der Welt, vereinigt Euch!». Das Sendeprogramm von RT gibt intellektuellen Aussenseitern, die von den grossen Fernsehstationen ignoriert werden, eine Plattform.
So habe ich selbst zum Beispiel Ökonomen mit durchaus interessanten Positionen über diesen Sender kennen gelernt. RT bewirtschaftet auch kontroverse Themen, wie die Skepsis vor der 5G-Technologie – während Putin 5G in Russland zeitgleich vorangetrieben hat. Im Konfliktfall wie dem Krieg gegen die Ukraine kann das treue Publikum der interessierten Andersdenkenden dann durch das russische Regime mobilisiert werden.
Wohlgemerkt sehe ich das Bestreben, anders zu denken, als eine positive Eigenschaft. Doch das putinsche Regime instrumentalisiert die Skeptiker für seine Zwecke. Teil des Propagandaapparates ist die «Internationale der konservativen Werte», die viele westliche, rechts stehende Politiker nicht nur durch Ideologie, sondern auch mit finanziellen Zuschüssen anzog, und von der sich einige seit Kriegsbeginn mit Mühe zu distanzieren versuchen.
Eine Differenzierung, um potenziellen Einwänden Andersdenkender zu begegnen:
Doch all dies kann nicht mit der russischen Propaganda-Walze, in der sich gleichgeschaltete politische Organe und Medien, wirtschaftliche Macht und Kriegsmaschine in einer Hand befinden, gleichgesetzt werden.
Zum Schluss eine positive Note: Die russische Propaganda wirkt längst nicht auf alle Russinnen und Russen. Ich kenne viele kritisch denkende Menschen, die sich dezidiert vom Weltbild distanzieren, das durch die regimetreuen Medien verbreitet wird. Durch die Monopolisierung der Macht und den Repressionsapparat wird ihre Stimme nicht gehört. Es ist Angst, welche die Bevölkerung lähmt – durch die Geschichte von Unterdrückung, Rechtlosigkeit und Totalitarismus wurde sie zum integrierten Bestandteil der russischen DNA.
Der Bundesrat hat richtig entschieden, die russischen Staatsmedien nicht zu verbieten. Als erfahrene Demokratie muss die Schweiz zu anderen Mitteln als der Zensur greifen. Aufklärung und Bildung zur Förderung der Urteilsfähigkeit ermächtigen die Menschen, sich selbst vor Manipulation und Instrumentalisierung zu schützen.
Michael Derrer hat sich als Unternehmer seit 30 Jahren auf Russland, die Ukraine und Osteuropa spezialisiert. Er spricht Russisch, Polnisch, Ukrainisch und weitere osteuropäische Sprachen. An der Hochschule Luzern richtet er seinen Unterricht von Wirtschaft und Soziologie auf die Schulung der Urteilsfähigkeit seines Publikums aus. Im Nebenamt ist Michael Derrer seit zehn Jahren Bezirksrichter in Rheinfelden. Er präsidiert den von ihm gegründeten Schweizerischen Verband für Miliz- und Fachrichter.