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Die beiden Brüder Ahmet (32) und Abdulkerim Talli (25) müssen die Schweiz bis zum 24. Dezember verlassen. Ihr Anwalt spricht nun von einem Justizirrtum. Mittlerweile unterstützen 1500 Menschen die beiden mit einer Petition.
Die beiden Brüder Ahmet (32) und Abdulkerim Talli (25) leben seit 2017 in einer Asylunterkunft im Kanton Aargau. Sie müssen die Schweiz bis zum 24. Dezember verlassen. So steht es im Brief des Staatssekretariats für Migration datiert vom 24. November 2020. Die Brüder sollen in die Türkei ausgeschafft werden. Das macht ihnen Angst. «Wenn wir in die Türkei zurückgehen, landen wir im Gefängnis oder sind tot», sagt Ahmet Talli. Sein Bruder ergänzt: «Für die Türkei sind wir Terroristen.»
Ahmet und Abdulkerim Talli sind 2017 kurz nacheinander in die Schweiz eingereist. Vor ihrer Flucht lebten sie im irakischen Flüchtlingslager Makhmur. Mehrere Geschwister und die Eltern der beiden Brüder sind immer noch dort. Beim Lager handelt es sich um ein kurdisches Flüchtlingslager. Es ist seit Anfang der 90er-Jahre Zufluchtsort von kurdischen Flüchtlingen aus der türkischen Region Südostanatolien, die seit 1993 während der Kämpfe zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Untergrundorganisation PKK aus ihren Heimatregionen geflüchtet sind. Auch die Eltern der beiden Brüder sind geflüchtet. Ihr Dorf wurde zerstört. Sie lebten in verschiedenen Flüchtlingscamps, bis sie nach Makhmur kamen.
Hüsnu Yilmaz ist Anwalt in Lausanne. Er hat über 30 Menschen juristisch vertreten, die eine ähnliche Geschichte wie die Brüder haben und vor ihrer Flucht in die Schweiz ebenfalls im kurdischen Flüchtlingscamp Makhmur im Nordirak lebten. Er setzt alles daran, die drohende Ausschaffung der Männer in die Türkei zu verhindern.
Am Telefon spricht Yilmaz von einem «Justiz-Irrtum, der dringend korrigiert werden muss». Das hat er auch Mario Gattiker, dem Generalsekretär des Staatssekretariats für Migration (SEM), Ende November in einem Brief mitgeteilt. Am vergangenen Montag hat Yilmaz beim SEM ein Wiedererwägungsgesuch eingereicht. Die Behörde soll sich noch einmal mit dem Fall der beiden Brüder befassen, verlangt er. Das verlangen auch die mehr als 1500 Unterstützerinnen und Unterstützer einer Onlinepetition, die vorletzte Woche lanciert wurde. Sie warnen davor, dass eine erzwungene Ausschaffung in die Türkei «ein menschliches Drama» zur Folge hätte.
Nach Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes sind die Bewohnerinnen und Bewohner des Lagers stark von der PKK beeinflusst, fast alle sollen Sympathisanten und Anhänger der PKK sein. Auch würden fast sämtliche höheren Funktionen im Camp von PKK-Anhängern besetzt, heisst es in einem Urteil vom Juni 2020.
Es handle sich beim Lager nicht um ein Trainingscamp der PKK, so das Bundesverwaltungsgericht weiter. Die türkischen Behörden gingen aber gleichwohl davon aus, dass die PKK in Makhmur aktiv ist. «Für die Türkei gilt, so schreiben verschiedene Quellen, das Lager Makhmur als Basis der PKK», heisst es im Urteil. Die Türkei sei nicht nur militärisch, sondern auch geheimdienstlich vor Ort aktiv und es sei davon auszugehen, dass die türkischen Behörden generell in Kenntnis über den Aufenthalt ihrer kurdischen Landsleute seien.
Trotzdem will die Schweiz die Brüder in die Türkei ausschaffen. Sie haben den negativen Asylentscheid des Staatssekretariats für Migration erfolglos beim Bundesverwaltungsgericht angefochten.
Das Gericht bestätigt in seinem Urteil von Anfang Juli die Einschätzung des SEM: Die Brüder hätten in der Türkei «persönlich keine Nachteile erlitten» und würden «keinerlei verfolgungsbedeutsames politisches Profil» aufweisen. Die geäusserte Furcht vor Inhaftierung und Folterung bei einer Rückkehr in die Türkei sei «objektiv in keiner Weise begründet». Zumal die Brüder auch nicht geltend gemacht hätten, aus einer politischen Familie zu stammen, selber politisch aktiv gewesen zu sein oder verfolgte Familienangehörige zu haben.
Wie politisch engagiert ihre Familie ist, haben die Brüder in den Einvernahmen während des Asylverfahrens verschwiegen. Sie haben dies erst vor Bundesverwaltungsgericht offengelegt. Für das Gericht handelt es sich dabei «offensichtlich um einen unbeachtlichen Nachschub von Asylgründen, deren Glaubhaftigkeit erheblich in Zweifel zu ziehen ist».
Die Brüder hingegen argumentieren, sie hätten sich nicht getraut, sich selbst und ihre Familienangehörigen im Asylverfahren als Mitglieder beziehungsweise Sympathisanten der PKK erkennbar zu machen. Sie befürchteten, die Informationen könnten an die Türkei weitergeleitet werden. Ein türkischstämmiger Polizist der Kantonspolizei Aargau habe sie in einer Einvernahme als Terroristen beschimpft und ihnen einen Kurdisch-Übersetzer verweigert. Das Bundesverwaltungsgericht findet diese Erklärung für das zweieinhalbjährige Verschweigen des neuen Sachverhalts «haltlos».
Für Anwalt Yilmaz hingegen ist klar, dass der Fall der Brüder mit den Fällen zahlreicher anerkannter Flüchtlinge aus dem Lager Makhmur vergleichbar ist und ihnen bei einer Ausschaffung in die Türkei das drohen würde, was das Bundesverwaltungsgericht in einem anderen Urteil festhält: erhebliche Konsequenzen.
In seinem Wiedererwägungsgesuch verweist Yilmaz auf Artikel in staatsnahen türkischen Medien, die in den letzten Tagen über den Fall berichtet haben. Darin werden Ahmet und Abdulkerim Talli als «PKK-Terroristen» oder «Terroristenbrüder» bezeichnet. Ebenso wird im Artikel erwähnt, dass zwei Onkel und Cousins der Brüder getötet worden seien und andere Familienmitglieder noch immer in den Reihen der PKK oder der bewaffneten kurdischen Miliz YPG aktiv seien. Für Yilmaz beweist das, dass die Brüder bei einer Ausschaffung in die Türkei ernsthaft bedroht wären.
Ob sich die Behörden von diesen Artikeln umstimmen lassen, ist offen. Das Staatssekretariat für Migration liess Anwalt Yilmaz bereits in der Antwort auf seinen Brief von Ende November wissen, die Asylgründe der beiden Brüder seien «sorgfältig und einzelfallspezifisch» geprüft worden.
Die Verweise auf Urteile, in denen das Bundesverwaltungsgericht zu Gunsten von Personen entschieden habe, welche im Camp in Makhmur untergebracht waren, seien «unbehelflich». Diese Personen würden zusätzlich «ein entsprechendes Risikoprofil» aufweisen, «was im Falle Ihrer Mandanten jedoch nicht gegeben ist».