Interview
«Einige Junge und Ältere haben es noch nicht begriffen» – Jean-Pierre Gallati fordert Bundesrat zum «Durchbefehlen» auf

Als Gesundheitsdirektor ist Jean-Pierre Gallati seit Ausbruch der Epidemie oberster Krisenmanager des Kantons. Warum er weiter ÖV nutzt, was auf den Aargau zukommt und was die Corona-Krise mit ihm persönlich macht, verrät er im Interview.

Rolf Cavalli
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Jean-Pierre Gallati: «Einige Junge und Ältere haben es noch nicht begriffen.»

Jean-Pierre Gallati: «Einige Junge und Ältere haben es noch nicht begriffen.»

Annika Buetschi / AZ

Samstagmittag. Jean-Pierre Gallati parkiert seinen Mercedes in der Tiefgarage beim Departement Gesundheit und Soziales (DGS) hinter dem Bahnhof Aarau. Eine Ausnahme. Normalerweise kommt Gallati mit dem Zug zur Arbeit. Der Regierungsrat führt durch die Gänge seines Departementes, das er seit Mitte Dezember leitet. Es ist still und leer. Auch werktags sind die Büros gelichtet. Gut ein Drittel der DGS-Mitarbeiter ist im Home-Office. Gallati schliesst sein Büro auf. Er lasse die Tür sonst immer offen, sagt er. Wir setzen uns an den Sitzungstisch, weiter auseinander als zu normalen Zeiten.

Wie geht es Ihnen?

Jean-Pierre Gallati: Gut, danke.

Ist der Schnupfen weg, den Sie vor zwei Wochen hatten, als die AZ Sie für eine Reportage im Zug begleitete?

Da habe ich mir nur einmal die Nase geschnäuzt. Wirklich schwer erkältet war ich im Dezember. Erwischt hat es mich wohl, weil ich ständig zwischen Wohlen, Aarau und Bern unterwegs war und auf den Bahnhöfen Aktenkoffer geschleppt und dabei geschwitzt habe.

Fahren Sie trotz Corona immer noch täglich mit Bus und Zug zur Arbeit?

Ja. Es hat jetzt ja so wenig Leute wie nie. Im Bus bin ich oft der Einzige. (Zeigt zum Fenster Richtung Bahnhof Aarau) Wie ein Geisterbahnhof sieht es aus da unten. Social Distancing ist gewährleistet.

Die Regierung ruft die Bevölkerung auf, zu Hause zu bleiben. Warum machen Sie nicht wenigstens am Samstag Home-Office?

Ich mache nie Home-Office. Dazu eigne ich mich technisch nicht.

Sie sind nicht gerade ein Vorbild.

Unter Home-Office verstehe ich, das interne kantonale Computersystem zu nutzen. Aber selbstverständlich arbeite ich zu Hause am Wochenende. Jeder Regierungsrat bekommt einen Koffer voller Regierungsgeschäfte am Freitagabend, die man bis Montag abarbeiten muss.

Drei Wochen sind vergangen, seit der Bundesrat als erste Massnahme alle Veranstaltungen ab 1000 Personen verboten hat und den Kantonen beauftragte, kleinere Anlässe in Eigenregie zu kontrollieren. Sie waren als einziger Gesundheitsdirektor dagegen. War das damals eine Fehleinschätzung?

Das glaube ich nicht. Aber ich will die Massnahmen des Bundesrates jetzt nicht öffentlich kritisieren. Wir sind in einer Notlage. Wenn das alles vorbei ist, kann man eine Manöverkritik machen. Nur so viel: Ich hatte gute Gründe, warum ich damals gegen das Veranstaltungsverbot und dessen Ausgestaltung war.

Sie glaubten nicht an die Wirkung?

Wie gesagt, fragen Sie mich in ein paar Monaten nochmals. Ich will aber festhalten: Zwar war ich dagegen, habe den Beschluss aber zusammen mit meinem Team und anderen Departementen innert vier Stunden mit einem Bewilligungsverfahren umgesetzt.

In der Corona-Krise regierte lange der Kantönligeist. Wie erlebten Sie das als neuer Gesundheitsdirektor?

Die Ansage aus Bern war am Anfang sehr kurzfristig. Das enge Zeitkorsett liess es nicht zu, dass die Gesundheitsdirektoren sich absprechen konnten.

Aber auch in den Wochen darauf übten sich viele Kantone im Alleingang. Baselland zum Beispiel preschte mit der Ausrufung der Notlage vor.

Der Aargauer Regierungsrat hat mehrmals zum Ausdruck gebracht, dass wir keine kantonalen Sonderzüge wollen. Der Bundesrat hätte gemäss Epidemiegesetz die Kompetenzen «durchzubefehlen». Aber wenn man Spielraum offenlässt, dann nutzen das Einzelne eben. Das jüngste Beispiel ist der Kanton Uri, der ein Ausgehverbot für über 65-Jährige beschlossen hat, das er am Samstag wieder rückgängig machen musste.

Finden Sie diese Massnahme in der Sache nicht sinnvoll?

Doch, eigentlich schon. Aber nicht sinnvoll ist es, das einzeln zu beschliessen. Das führt nur wieder zu Verunsicherung.

Was halten Sie von einem generellen Ausgehverbot?

Wenig. Einige Junge und Ältere haben es tatsächlich noch nicht begriffen. Aber alle, die beruflich in der Verantwortung stehen, ziehen mit. Wir trauen dem Grossteil der Bevölkerung zu, sich verantwortungsvoll zu verhalten.

Trotz drastischer Massnahmen sollen die Spitäler aber schon in den nächsten Tagen auch bei uns an den Anschlag kommen, nicht erst Ende April, wie anfangs vermutet. Haben die Behörden, auch Sie, die Corona-Krise unterschätzt?

Mein Experten-Team sagte mir schon im Januar, dass wir die Epidemie nicht verhindern können. Man rechnete mit einer Ansteckungsquote von 30 bis 70 Prozent. Das Einzige, das wir versuchen können, ist, die Ausbreitung zu verlangsamen. Meine Mitarbeitenden haben mich aufgeklärt, bevor es der Bund öffentlich tat, und wir haben rasch Szenarien bis zum Oktober erarbeitet.

Der Aargau hat etwa 100 Betten für schwere Corona-Patienten. Das werde nicht reichen, sagten Sie. Womit rechnen Sie?

Wenn gleichzeitig alle den Notfall stürmen und behandelt wird, wer zuerst da ist, bekommen wir Verhältnisse wie in Italien. Das müssen wir verhindern. Darum braucht es Triage-Richtlinien, die bestimmen, nach welchen Kriterien Patientinnen und Patienten behandelt werden.

Was ist neu an den eben verabschiedeten Richtlinien für Ärzte?

Nehmen Sie den 88-jährigen Corona-Patienten, der im Aargau letzte Woche gestorben ist. Tragischerweise hatte er noch Krebs und weitere schwere Leiden. Er hatte null Chancen zu überleben. Ein solcher Patient nimmt, brutal gesagt, einem jüngeren Erkrankten den Platz weg. Er sollte darum eher palliativ behandelt werden, damit andere gerettet werden können, bei denen noch eine Chance auf Genesung besteht. In diesem Fall wollte die betroffene Person aber von sich aus nicht weiter behandelt werden.

Was können Sie als Gesundheits­direktor über die Planung der Spitalkapazitäten hinaus jetzt noch tun?

Die Verteilung der Ausrüstung läuft teilweise über uns: Schutzmaterial, Masken, Desinfektionsmittel. Zusammen mit der Wirtschaft suchen wir neue Kanäle, um Material zu beschaffen, das ausgeht. Wir haben gerade eine Bestellung von Desinfektionsmitteln gemacht, die eine Aargauer Firma zum Selbstkostenpreis produziert. Wir versuchen einfach, die Mangelsituation zu bewältigen. Aber sonst, offen gesagt, schaue ich vor allem, ob die am Freitag vom DGS zusammen mit den Leistungserbringern eingeleiteten organisatorischen Vorkehrungen wirken.

Wie nahe geht Ihnen das Ganze persönlich?

Es gibt Momente, in denen ich mir tiefere Gedanken mache. Die tue ich aber relativ schnell beiseite. Bei einer solchen Aufgabe haben Sie keine Zeit für Emotionen, da müssen Sie den Kopf frei haben, um sachlich und schnell entscheiden zu können.

Reden Sie zu Hause mit Ihrer Frau auch fast nur noch über Corona?

Klar rede ich regelmässig mit ihr darüber. Sie ist meine wichtigste Bezugsperson. Aber wir reden zwischendurch auch über anderes.

Können Sie abschalten?

Am Wochenende ja.

Wie tun Sie das?

Indem ich andere Geschäfte abarbeite. Vor allem aber lese ich viel.

Was lesen Sie zurzeit?

Normalerweise beschäftige ich mich mit mehreren Büchern parallel. Zurzeit ein Werk über den 1. Weltkrieg, aus beruflichen Gründen «Goodbye Everyone» über den Flugzeugabsturz von Würenlingen und «Paarbildung» von Urs Faes, eine Liebesgeschichte eines Psychiaters in der Onkologie des KSA. Ich lese im Zug oder nachts. Aber ehrlich gesagt schlafe ich in letzter Zeit immer sofort ein.

Kaufen Sie zurzeit auch mehr Lebensmittel ein als sonst?

Nein, weder meine Frau noch ich. Die Versorgung in der Schweiz ist gewährleistet.

Haben Regierungsräte aufgrund ihrer Funktion in der Krise eigentlich einen privilegierten Zugang zum Gesundheitssystem?

Nein, Regierungsräte haben keine Sonderbehandlung.

Sie könnten auch nicht einfach so einen Corona-Test verlangen?

Auch das nicht. Es gibt aber andere Fälle: Wenn ein Polizist wegen häuslicher Gewalt ausrückt und von einem Erkrankten angespuckt wird, muss er wissen, ob er seinen Dienst weitermachen kann. Dann macht man ausnahmsweise Tests. Und es gibt Spezialisten, die wichtige Infrastrukturen bedienen und schneller getestet werden.

Was, wenn ein Regierungsrat erkrankt: Würde in Ihrem Fall wieder Stephan Attiger als Stellvertreter das DGS übernehmen?

Nein, für ein paar Wochen kommt der Stellvertreter nicht zum Zug. Nur wenn wie letztes Jahr jemand über Monate ausfällt.

Sie hatten zum Start Ihrer Amtszeit sicher Vorstellungen, wie Sie führen wollen. Können Sie die jetzt anwenden oder mussten Sie umdenken?

In dieser Ausnahmesituation kann ich anwenden, was ich im Militär gelernt und verinnerlicht habe: fixe Strukturen, wie man eine Lage beurteilt, einen Entschluss fasst sowie schnell Aufträge erteilt. Solche Führungsprinzipien sind – und das meine ich wertfrei – in einer Verwaltung sonst wenig erfolgreich, weil hier die Abläufe sorgfältig bis perfekt sind, aber eben auch etwas langsamer.

Corona bestimmt Ihre Arbeit. Es gibt aber andere Probleme wie die Flüchtlingswelle. Kommt da die nächste schwierige Aufgabe auf uns zu?

1920 kam nach der vierten Welle der Spanischen Grippe die Maul- und Klauenseuche. Es ist also möglich, dass die eine Katastrophe die nächste ablöst. Das weiss man nie und oft kommt es ganz anders. Ich mache mir darüber jetzt keine grossen Gedanken. (Pause). Darf ich zum Schluss noch einen Aufruf an die Leserschaft machen?

Bitte.

Ich appelliere an Vernunft und Pflichtbewusstsein aller Junioren und Senioren, sich an die Schutzmassnahmen und Empfehlungen des Bundes zu halten. Bleiben Sie zu Hause. Wenn Sie nach draussen müssen, immer zwei Meter Abstand zu Anderen halten und sich nicht in Gruppen über fünf Personen aufhalten. Zum Schutz der älteren Personen.