Startseite
Aargau
Kanton Aargau
Fast jedes vierte Kind wird online schikaniert. Um dagegen vorzugehen, besucht die Stiftung «Elternsein» Schulklassen in der ganzen Deutschschweiz. Mit einem speziell präparierten Handy: Dass Cybermobbing Schmerz verursachen kann, haben Fricktaler Schüler wortwörtlich am eigenen Leib erfahren.
Monatelang wird Céline aus Spreitenbach online gemobbt. Als schliesslich ein intimes Bild von ihr veröffentlicht wird, nimmt sich das 13-jährige Mädchen das Leben. Der Fall Céline ist ein Einzelfall. Ein Extremfall, der den schlimmstmöglichen Ausgang zeigt, den Mobbing nehmen kann.
Cybermobbing, also Mobbing, das online geschieht, über WhatsApp, Snapchat oder Tiktok, ist hingegen kein Einzelfall. Es hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Fast jeder vierte Jugendliche in der Schweiz ist bereits online fertig gemacht worden. Zu diesem Schluss kam eine Studie der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften.
Und diese Zahlen könnten dieses Jahr nochmals steigen. Wegen Corona waren die Kinder und Jugendlichen öfter zu Hause. Sie hatten mehr Zeit, die sie online verbringen konnten. Offizielle Zahlen dazu gibt es keine. Aber die Befürchtung ist da. Etwa bei Patrik Luther. Er ist Projektverantwortlicher bei der Stiftung «Elternsein». Er hat ein Projekt mit aufgegleist, welches Lehrerinnen und Schüler für Cybermobbing sensibilisieren soll.
Kreisschule Unteres Fricktal in Rheinfelden. 800 Schülerinnen und Schüler drängeln sich durch die Korridore der verschiedenen Gebäude. Es ist laut in der Mensa. Aus den Musikzimmern nebenan ist Gesang und ein Klavier zu hören. Nur in zwei dieser Musikzimmer nicht. Dort haben sich heute zwei Sozialpädagoginnen eingerichtet. Eine Klasse nach der andern betreten die Zimmer, jeweils für eine Lektion. Den ganzen Tag geht es so.
«Ab wann seid ihr strafmündig?» Die erste Frage von einer der Sozialpädagoginnen. Mehrere Hände schnellen hoch. «Ab zehn.» «Und wie macht man sich strafbar?» «Mit Mobbing.» «Oder Rassismus.» «Oder wenn ich Bilder weiterleite.» Wer denn alles schon beleidigt worden sei, fragt die Sozialpädagogin weiter. Alle Hände schnellen hoch. Und wer alles schon beleidigt habe? Erneut sind alle Hände oben.
Vor der Klasse liegt ein präpariertes Handy. Eine nach der anderen desinfizieren sich die Kinder die Hände und nehmen es in die Hand. Hinten am Handy ist eine kleine Platte angebracht. Jedes Mal, wenn die Schüler eine der eingespeicherten, verletzenden Nachrichten lesen, sendet die Platte einen Elektroimpuls aus. So ähnlich wie es beim Physiotherapeuten geschieht, wenn Muskelrisse geheilt werden sollen. Nur nicht so stark. Die Kinder sollen lernen, dass auch WhatsApp-Nachrichten weh tun können.
Und was bringts? Hat das Projekt nachhaltige Wirkung? Projektleiter Patrik Luther findet:
Viele Kinder finden das Thema belustigend. Aber sobald sie das präparierte Handy in den Fingern halten, passiert etwas. Dann heisst es manchmal: Ja genau. Das Gefühl kenne ich. Das tut weh, und das ist mir auch schon passiert.
Ausserdem, so Luther weiter, sei das Ziel, etwas anzustossen. Die Lehrerinnen und Lehrer könnten anschliessend das Thema aufnehmen und weiter behandeln.
Was meinen die Jugendlichen dazu? Was ist für sie Mobbing? Haben sie es schon erlebt? Oder im Gegenteil, haben sie schon gemobbt? Wir haben verschiedene Achtklässler der Real und Sek befragt.
Seit vier Jahren bietet die Stiftung Elternsein dieses Angebot an. Jedes Jahr passt sie es, je nach Feedback, ein wenig an. Dieses Jahr wurde zum Beispiel ein erstes Mal eine Infolektion durchgeführt. Die haben alle Klassen gemeinsam, sie erfahren grundlegende Sachen über Mobbing und Strafrecht. Dadurch haben die Sozialpädagoginnen in den Lektionen mit den einzelnen Klassen mehr Zeit, auf die individuellen Jugendlichen einzugehen. Denn: «Jede Klasse ist unterschiedlich», so Luther. «In manchen ist Mobbing ein Thema, dann fängt es in der Lektion richtig an zu sprudeln. In anderen ist das Thema noch sehr weit weg.»
Vor vier Jahren hat die Stiftung Elternsein eine Kampagne gegen Cybermobbing lanciert. Seither «tourt» sie durch die gesamte Deutschschweiz. Dieses Jahr werden die Sozialpädagogen und Sozialarbeiterinnen der Stiftung 140 Klassen an 40 Schulen besuchen und zum Thema Cybermobbing sensibilisieren. Das Angebot ist für die Schulen gratis. Die Stiftung finanziert sich durch private Geldgeber und andere Stiftungen. Das Projekt kostet zwischen 30000 und 60000 Franken im Jahr.