ASE-Prozess
Die Jäger des verlorenen Geldes: «Lieber eine schnellere Verurteilung als eine vollumfängliche»

Der ASE-Betrugsprozess endet am Montag. Die Aargauer Wirtschaftsermittler erzählen von ihrer schwierigen Arbeit und erklären, wieso sie für Ermittlungen nicht ins Ausland reisen.

Mario Fuchs
Drucken
«Wir können nicht den Anspruch haben, alles lückenlos zu belegen»: Die Wirtschaftsermittler Jürg Balz (links, mit Polizeiwaffe) und Adrian Schulthess im Archiv.

«Wir können nicht den Anspruch haben, alles lückenlos zu belegen»: Die Wirtschaftsermittler Jürg Balz (links, mit Polizeiwaffe) und Adrian Schulthess im Archiv.

Sandra Ardizzone

An den Wänden hängen Fotos von Polizisten mit Spürhund, Waffe, Warnweste. Ein Kopierer und Aktenschränke stehen im Korridor. Vor vier Jahren wurde der Dienst Wirtschaftskriminalität der Aargauer Kantonspolizei aus dem Kommando in der Aarauer Telli ins Verwaltungsgebäude gleich hinter dem Bahnhof verlegt. Ein Jahr später zog auch die für Wirtschaftsdelikte zuständige Kantonale Staatsanwaltschaft ein. Um die enge Zusammenarbeit weiter zu vereinfachen, wurden die Teams räumlich zusammengelegt.

Ihr bislang grösster Fall: Die Investmentfirma ASE aus Frick, die mit einem Schneeballsystem gegen 2000 Anleger um ihre Ersparnisse brachte. Im Luftschutzkeller befinden sich grosse Aktenarchive. Hier steht auch ein Grill, der im Sommer «für die Teambildung» genutzt wird. Wir nehmen im 3. Stock in einem Einvernahmeraum Platz – nur, dass diesmal die Ermittler «einvernommen» werden: Jürg Balz, Dienstchef Wirtschaftskriminalität der Kapo, und Adrian Schulthess, Leiter der Kantonalen Staatsanwaltschaft.

Herr Schulthess, Sie haben vier Jahre an der Aufklärung des Falles ASE gearbeitet. War das kurz oder lang?

Staatsanwalt Adrian Schulthess: Aussergewöhnlich kurz. Mir ist in der Schweiz kein anderes Verfahren in dieser Dimension bekannt, das so schnell zur Anklage gebracht werden konnte.

Was war das Schwierigste?

Schulthess: Die Beweiserhebung am Anfang, alle Informationen aufzuspüren.

Wo begannen Sie damit?

Schulthess: Wir gingen vor Ort und schauten, was noch vorhanden ist.

Läuft das wie im Film? Mit Blaulicht einfahren, alles beschlagnahmen?

Polizist Jürg Balz: Ohne Blaulicht, das gäbe zu viel Aufruhr. Wir kommen in Zivil, klingeln und machen unsere Arbeit. Zuerst eröffnen wir den Leuten ihre Rechte. Im Fall ASE wurden die Wohnsitze der Hauptbeschuldigten gleichzeitig durchsucht, um Absprachen zu verhindern.

Was heisst «unsere Arbeit machen»?

Balz: Bei der ASE gab es Hunderte Kunden mit bis zu sechs Konti, und das über sechs Geschäftsjahre. Eine unvorstellbare Menge an Daten. Wir trafen grosse Trader-Räume an mit Arbeitsstationen, so hohe Stapel Kontoauszüge (fährt mit der Hand von der Tischplatte über seinen Kopf). Hunderte Fächer mit Post für jeden Kunden. Das ist harte Knochenarbeit, bis man ungefähr weiss, was vorhanden ist.

Und dann nehmen Sie alles mit?

Schulthess: Nicht immer. Man hat ja eine Strafanzeige und einen Verdacht. So versucht man, möglichst früh einzugrenzen.
Balz: Bei einem Anlagebetrug brauchen wir sicher alle Computer. Wir müssen wissen, wo die Server stehen. Tausende Kontoauszüge kann man nicht vor Ort studieren. Wir nehmen mit, was relevant ist.

Wie arbeiten Sie mit den Daten?

Balz: Die Datenträger werden zuerst gespiegelt, mit den Spiegelungen können wir dann arbeiten. In einem kleinen Verfahren kommt man mit vier, fünf Suchbegriffen ans Ziel. Im Fall ASE hat das nicht funktioniert, weil es um Finanzflüsse ging. Da mussten wir etwas kreativer sein.

Schulthess: Eine der ersten Aufgaben war, einen sogenannten Geldfluss zu erstellen. Wo ging das Geld hin? Können wir noch Geld sicherstellen? Allen Wegen mussten wir nachgehen, denn Verbrechen dürfen sich für die Täter nicht lohnen.

Wie konnten Sie die Beträge mit den Kunden in Verbindung bringen?

Schulthess: Wir konnten nicht einfach die Buchhaltung der ASE nehmen, wir mussten alles aufarbeiten. Wir haben Einzelkonti für alle Kunden erstellt, um die Transaktionen nachzuvollziehen.

Balz: Für ein komplettes Bild kamen die Seite der Bank und der Anleger hinzu. Auch von ihnen forderten wir Dokumente ein.

Teils waren Offshore-Konti betroffen. Kamen Sie auch an diese Daten?

Schulthess: Dafür braucht es internationale Rechtshilfeersuchen. Die können Jahre dauern. Gerade im angelsächsischen Rechtsgebiet ist es schwierig. Es gibt Abkommen, aber sie liefern nicht gern. In Offshore-Gebieten gibt es nicht einmal Abkommen, dort beruht alles auf Freiwilligkeit.

Balz: Selber für Ermittlungen ins Ausland reisen wir selten. Das nützt nur etwas, wenn man vor Ort gute Beziehungen hat. Dann kann man fokussiert suchen. Ansonsten nützt es nicht viel.

Wie entscheiden Sie, was angeklagt wird und was nicht?

Schulthess: Wir können nicht den Anspruch haben, alles lückenlos zu belegen. Wenn Unterlagen fehlen, weil sie nie gemacht wurden oder verschwanden, ist das nicht möglich. Ein Geschäftsjahr, von dem wir zu wenig Daten haben, lassen wir in der Anklage lieber weg, wenn wir dafür andere, gut dokumentierte Jahre haben.

Weshalb diese Selektion?

Schulthess: Lieber eine schnellere Verurteilung als eine vollumfängliche, bei der das Verfahren viel zu lange dauert. Aus Kostengründen und weil ein Verfahren mit zunehmender Dauer auch immer belastender wird für die Betroffenen.

So hat man bei ASE vorwärtsgemacht?

Schulthess: Absolut. Aber man muss auch sagen, dass es positive Aspekte gab, die das gefördert haben. Etwa, dass der Hauptbeschuldigte grundsätzlich geständig ist. Alleine das kann Jahre ausmachen.

Kommt man auch mal an Grenzen?

Balz: Ja. Deshalb sind Teambesprechungen so wichtig. So kann man sich gegenseitig wieder motivieren. Der eine weiss hier Bescheid, der andere dort – und plötzlich geben 1 und 1 wieder 2.

Schulthess: Ein Zürcher Kollege sagte kürzlich: Wirtschaftsermittler sind Marathonläufer. Er hat recht. Wer vier Jahre an einem Fall arbeitet, braucht auch Abwechslung. Wir achten darauf, dass jemand nebst einem grossen Verfahren kleinere hat. So behält man Routine vor Gericht und hat zwischendurch Erfolgserlebnisse.

Sie sagen, ASE sei in seiner Dimension eine Ausnahme. Was ist Alltag?

Schulthess: Vor allem Konkurse, Veruntreuungen oder zunehmend Geldwäscherei via gehackte E-Banking-Konten. Wenn man einen attraktiven Wirtschaftsstandort hat wie im Aargau, zieht man auch ein Stück weit Probleme an. Die ganz grossen Kisten spielen sich aber in Zürich ab.

Jetzt ist der Fall ASE vor Gericht, am 15. Dezember wird das Urteil gefällt. Können Sie sich zurücklehnen?

Balz: Wir von der Polizei schon. Wir beobachten aber, was mit unserer Arbeit vor Gericht passiert. Daraus ziehen wir Lehren. Vielleicht müssen wir uns hinterfragen, vielleicht werden wir bestätigt.

Sie wohl kaum, Herr Schulthess?

Schulthess: Nein. Für uns heisst es bis und mit Montag nochmals Vollgas. Es sind immer zwei Leute von uns in Eiken. Das ist nicht die Norm, aber in diesem Fall muss man zu zweit sein, damit sich der fallführende Staatsanwalt auf den Prozess konzentrieren und jemand daneben allfällige Abklärungen machen kann.

Ohnehin dürfte Ihnen die Arbeit nicht so schnell ausgehen?

Balz: In diesem Bereich bin ich seit 20 Jahren tätig. Wir hatten immer mehr Fälle, als wir bearbeiten konnten. Als Polizist erachte ich das als suboptimal. Wir sehen sehr viel Verdächtiges, haben aber keine Ressourcen für Vorermittlungen.

Schulthess: Wir versuchen zwar ständig, noch effizienter zu werden, Verfahren schlank zu halten. Aber auch unsere Tage haben nicht unbegrenzt viele Stunden.