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Kanton Aargau
Die Leute sollen wegen des Coronavirus zu Hause bleiben. Das führt bereits in der ersten Woche zu einer Zunahme der Fälle von häuslicher Gewalt. Nur: Die Frauen- und Männerhäuser in der Region sind praktisch voll.
«Bleiben Sie zu Hause. Halten Sie Abstand.» Fast schon gebetsmühlartig werden die Aufforderungen des Bundesrates momentan heruntergeleiert. Die Massnahmen sollen die Menschen schützen. Vor dem Coronavirus. Keinen Schutz bieten sie vor anderen Gefahren. Im Gegenteil: Weil die Menschen jetzt ständig auf engstem Raum aufeinandersitzen, werden die Fälle von häuslicher Gewalt zunehmen. Das befürchten fast sämtliche Expertinnen und Experten.
Das Frauenhaus Aargau/Solothurn registrierte diesen Anstieg bereits. Um die zehn telefonische Beratungsgespräche führen die Mitarbeiterinnen normalerweise wöchentlich durch. Vergangene Woche waren es gegen 30. Zwischen drei und fünf Frauen fragen jede Woche nach einem Platz. Vergangene Woche waren es acht.
Nur: 18 der 19 Plätze, die das Frauenhaus anbieten kann, sind bereits belegt. Einen weiteren Anstieg der Fälle verkraftet das Frauenhaus mit den jetzigen Strukturen nicht. Neue Lösungen müssen her. «Wir machen uns im Moment verschiedene Überlegungen», sagt Stiftungsrätin Brigitte Kissling. Sie betont: «Abgewiesen wird niemand, der Schutz sucht.»
Wenn ein Frauenhaus normalerweise an den Anschlag kommt, spricht es sich mit Frauenhäusern anderer Kantone ab und kann eine Frau auch einmal woanders unterbringen. Nur: Sämtliche Frauenhäuser haben momentan ähnliche Probleme. Im Aargau und in Solothurn sucht man deshalb andere Lösungen. So wird etwa geprüft, ob manche Frauen vorübergehend in Hotels unterbracht werden können. Weiter ist man mit anderen Institutionen sowie den Kantonen in Kontakt, um mehr Plätze zu beschaffen. Eine Örtlichkeit werde laut Kissling aktuell ernsthaft geprüft.
Doch nicht nur mehr Plätze müssen her, sondern auch mehr Personal. Zum einen um die Frauen, die in Hotels untergebracht werden, auch betreuen zu können. Und zum anderen, um sicherzustellen, dass der Betrieb auch dann weiterläuft, wenn sich Mitarbeiterinnen anstecken sollten.
Das Frauenhaus hat den Betrieb bereits angepasst: Telefonische Beratungsgespräche werden von zu Hause aus gemacht. Die Betreuerinnen arbeiten in zwei Gruppen, nur eine Gruppe ist jeweils vor Ort. So müsste, wenn sich jemand anstecken sollte, zumindest «nur» die halbe Belegschaft in Quarantäne. Diese Situation fordere die Mitarbeiterinnen stark, so Kissling. Auch deshalb müsse mehr Personal her.
Mehr Personal, mehr Räumlichkeiten: All dies kostet. Das Frauenhaus Aargau/Solothurn war aber schon vor der Krise nicht auf Rosen gebettet. Wer soll das alles bezahlen? Beim Frauenhaus hofft man auf zusätzliche Unterstützung durch die Kantone. Mit dem Aargau wurden erste Gespräche geführt. Vereinbarungen wurden noch keine getroffen, auch keine konkreten Versprechungen wurden gemacht. Doch Kissling ist zuversichtlich: «Es wurde die Bereitschaft signalisiert, dass man uns unterstützen wird.»
Gespräche mit den Solothurner Behörden sollen noch geführt werden. Auf Anfrage heisst es vom zuständigen Amt für soziale Sicherheit: «Der Kanton Solothurn wird alles Erforderliche unternehmen und zur Verfügung stellen, damit Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt sind, den notwendigen Schutz erhalten.»
Das Frauenhaus bietet Frauen in Not nicht nur Obdach, es kümmert sich auch um die Anschlusslösungen, eine Wohnung und die Organisation von Sozialhilfebeiträgen zum Beispiel. In Coronazeiten gestaltet sich aber auch das schwieriger als sonst. Das hat Folgen: Die Frauen bleiben tendenziell länger im Frauenhaus, was den Platzmangel nochmals verschärft.
Doch trotz all der Schwierigkeiten: Kissling ist zuversichtlich, dass das Frauenhaus sein Angebot auch in dieser Krisenzeit wird aufrechterhalten können.
Nicht nur Frauen, auch Männer können Opfer häuslicher Gewalt werden. Die Anzahl gemeldeter Fälle ist allerdings tiefer. Gleichzeitig gibt es aber auch deutlich weniger Hilfsangebote für Männer. Eine der wenigen Institutionen, die es überhaupt gibt, ist der «ZwüscheHalt». Das Männer- und Väterhaus bietet ein Beratungstelefon an, ausserdem betreibt es je einen Standort in Bern, Luzern und Aarau. Auch Männer aus anderen Kantonen können sich bei «ZwüscheHalt» melden, Angebote in sämtlichen Kantonen gibt es nämlich gar nicht. Auch finanzielle Unterstützung durch die Kantone, wie sie etwa Frauenhäuser bekommen, gibt es für Männerhäuser keine.
Im Gegensatz zum Frauenhaus hat man bei «ZwüscheHalt» noch keinen Anstieg der Fälle bemerkt, sagt Präsident Oliver Hunziker. Er geht aber davon aus, dass in naher Zukunft mehr Streitereien im Privaten gewaltvoll enden werden: «Gerade bei Menschen, die zuvor schon eine Krise hatten, besteht die Gefahr, dass die Situation nun, da sie ständig zu Hause sind, eskaliert.»
Allzu viel dürfte allerdings gar nicht mehr passieren. An den drei Standorten zusammen hat das Männerhaus nämlich momentan noch acht freie Plätze. Und kurzfristig das Angebot zu erweitern, ist hier nicht möglich. Dazu fehlen die finanziellen Mittel. Auch zusätzliche, kurzfristige Unterstützung durch die Kantone steht für «ZwüscheHalt» nicht in Aussicht.
Sind die Männerhäuser voll, müssen sich betroffene Männer selbst Obdach suchen. Etwa in einem Hotel. Nur: «Das Dach über dem Kopf ist das eine», gibt Hunziker zu bedenken, «das andere ist die Betreuung, die wir anbieten können.» Denn gerade bei Männern seien die psychischen Schäden oftmals schlimmer als die körperlichen.
Brauchen Männer, die Opfer häuslicher Gewalt werden, mehr Beachtung? «Ich will die Geschlechter nicht gegeneinander ausspielen», sagt Hunziker. «Doch häusliche Gewalt muss gesamtheitlich angeschaut werden. Und das bedeutet: Es braucht Schutz und Beratung für alle.»