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Kanton Aargau
Ein Doktor stand vor Gericht, weil er eine betagte Patientin nach einer Hirnblutung nicht ins Spital überwies, sondern palliative Pflege anordnete. Er wurde freigesprochen.
2009 war die damals 71-jährige, schwer kranke Frau L. ins Pflegeheim eingetreten. Als sich am 30. April 2012 ihr Gesundheitszustand rapid verschlechterte, hatte ein Pfleger den behandelnden Arzt – nennen wir ihn Dr. Keller – vormittags telefonisch darüber informiert.
Zu dem Zeitpunkt war Dr. Keller im Zug unterwegs von einem Wochenend-Aufenthalt und nicht im Dienst. Telefonisch diagnostizierte er eine Hirnblutung und ordnete palliative Medizin und Pflege an.
Dies, obwohl im Notfall-Dispositiv des Pflegeheims für einen solchen Fall Massnahmen gemäss «Roter Punkt» vorgesehen waren: «Alle im Heim möglichen medizinischen und pflegerischen Massnahmen, einschliesslich einer eventuellen Verlegung in ein Spital.»
Gegen 12.30 Uhr war Dr. Keller im Heim ein- und dort auf den Sohn von Frau L. getroffen, welcher sich einverstanden erklärte, seine Mutter nicht in ein Spital zu verlegen, was er zuvor bereits gegenüber dem Direktor des Pflegeheims geäussert hatte.
Auch an den folgenden Tagen ordnete Dr. Keller lediglich an, bei Frau L. die Symptome und sonstige nachteilige Folgen der Hirnblutung zu lindern. Am 5. Mai starb Frau L. Ihr Sohn liess den Leichnam obduzieren und reichte Strafanzeige gegen Dr. Keller ein.
Da Dr. Keller nicht nur Belegarzt in besagtem Pflegeheim, sondern seit Jahrzehnten auch Amtsarzt ist, trat die Staatsanwaltschaft des zuständigen Bezirks wegen Befangenheit in den Ausstand.
Aus demselben Grund wurde der Fall an ein auswärtiges Bezirksgericht überwiesen. So stand der 69-jährige Dr. Keller nun in Bad Zurzach vor dem Einzelrichter. Der Staatsanwalt hatte ihn der «Aussetzung» angeklagt – ein sehr seltener Straftatbestand.
Er kommt zum Zug, wenn jemand einen Menschen wissentlich in Gefahr bringt und ihm dann nicht hilft. Oder wenn jemand einen sich in Gefahr befindlichen Menschen im Stich lässt, sich also von diesem entfernt oder sich ihm gegenüber vollständig passiv verhält.
Vor dem Richter schilderte der Beschuldigte die multiplen Erkrankungen von Frau L.: «Unabhängig davon, dass auch der Sohn sich gegen eine Überführung in ein Spital aussprach, war die Transportfähigkeit der Patientin stark infrage gestellt, da sie hätte intubiert werden müssen. Die Verabreichung oraler Medikamente war nicht mehr möglich.»
Auf die Frage des Sohns von Frau L., wie er telefonisch überhaupt die Diagnose «Hirnblutung» habe stellen können, betonte der Arzt, dass dies für eine ausgebildete Person ohne weiteres möglich sei. «Zudem kannte ich den Allgemeinzustand von Frau L., die ich seit drei Jahren behandelt hatte, sehr gut.» Nach ihrem Tod habe er sich intensiv mit Kollegen über den Fall besprochen. «Ich war und bin überzeugt, richtig gehandelt zu haben.»
Eingangs seines Plädoyers verwies der Verteidiger darauf, dass das Bundesgericht seit 1973 nur gerade zwei Urteile zum Straftatbestand «Aussetzung» habe fällen müssen und auch, dass es keine fahrlässige, sondern nur vorsätzliche Aussetzung gebe. «Der Tod der Patientin war vorgegeben. Es gibt keine Zweifel, dass die Gesundheit von Frau L. in einem Masse geschädigt war, dass selbst eine maximale Therapie ihren Tod nicht hätte verhindern können. Mein Mandant hat, im Wissen um die Vorgeschichte der Patientin, im Sinne der Menschenwürde gehandelt.»
Richter Cyrill Kramer sprach den Arzt von Schuld und Strafe frei. «Dr. Keller war nicht untätig geblieben, hat also keine hilflose Person im Stich gelassen. Der Straftatbestand der Aussetzung ist nur dann erfüllt, wenn die drohende Gefahr noch abzuwenden gewesen wäre. Laut Gutachten liess sich jedoch nicht feststellen, dass die Einweisung in ein Spital den Todeseintritt verhindert hätte», begründete der Richter den Entscheid.