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Kanton Aargau
Jahrzehntelang verloren Gewerkschaften Mitglieder und Einfluss. Der Politgeograf Michael Hermann stellt aber fest, dass ihre Bedeutung im Zuge von Lohndruck und Zuwanderung wieder steigt. Und wie schätzt der frühere Gewerkschaftspräsident Urs Hofmann die Situation ein?
Am 1. Mai werden im Aargau Gewerkschafter auf der Strasse für Arbeitnehmerrechte demonstrieren, allerdings deutlich weniger als früher. Wie beurteilt der Politgeograf Michael Hermann die heutige Stellung der Gewerkschaften? Die Veränderung vieler Berufsbilder und die Deindustrialisierung habe deren Basis viele Jahre abbröckeln lassen, sagt Hermann. Er beobachtet aber, dass die Erosion der Mitgliederzahlen gestoppt sei, die Zahlen zunehmen, ihre Bedeutung wieder steigt: «Parallel zu den grossen Debatten über Lohndruck, Zuwanderung, flankierende Massnahmen und weiteres mehr stieg die diesbezügliche Sensibilität der Menschen.»
Mitglieder zählte der Aargauische Gewerkschaftsbund (AGB) Anfang 2017 nach provisorischen Zahlen. Diese stabilisieren sich langsam nach einem langen Sinkflug. 1980 hatte er noch 30 000 Mitglieder.
Die Gewerkschaften hätten aber auch ihre Methoden modernisiert und seien kämpferischer geworden, nutzen vermehrt moderne Kommunikationsmittel, sagt der Politgeograf. Sie hätten allerdings ein Imageproblem. Das habe man gesehen, als sie eine riesige Demonstration für die AHV organisierten. Kaum jemand berichtete darüber. Das habe gewiss damit zu tun, dass sie als etwas verstaubt gelten.
Hermann glaubt, dass Gewerkschaften mehr erreichen könnten, «wenn sie nicht immer so verbissen, sondern auch mal lustvoll und spielerisch auftreten würden». Am meisten in diese Richtung gehe die Gewerkschaft Unia. Die zahle jetzt aber einen hohen Preis, weil sie besonders aggressiv auftrete und viele Firmenkulturen kritisiere. Sie habe zu lange gebraucht, um den Konflikt mit Roman Burger zu lösen, der lange als Inbegriff des modernen Gewerkschafters galt.
Volkswirtschaftsdirektor Urs Hofmann (SP) war bis zu seiner Wahl 2009 in die Kantonsregierung Präsident des Aargauischen Gewerkschaftsbundes (AGB). Was hat sich aus seiner Sicht verändert? Eine wichtige Entwicklung sei, so Hofmann, dass sich die einst klaren Berufsbilder, zum Beispiel von Metallarbeitern, die sich im Smuv engagierten, sehr verändert haben. Sie seien vielfältiger geworden, heute viel durchmischter, und sie verändern sich rasch. Hofmann: «Darauf müssen die Gewerkschaften eine Antwort finden und sich anders aufstellen.» Einst gehörte die Gewerkschafts-Mitgliedschaft zum Selbstverständnis des Industriearbeiters, das sei längst nicht mehr so. Dazu komme die Internationalisierung vieler Abläufe, die die Arbeitswelt stark verändern. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit neuer Arbeitszeitmodelle. Hofmann: «Früher hatte man einen klar geregelten 8-Stunden-Tag. Heute kann ein Arbeitstag manchmal ganz anders verlaufen, es gibt völlig neue Arbeitszeitmodelle, Teilzeitarbeit. Das sind grosse Herausforderungen, die die Gewerkschaften in ihrer ganzen Breite anschauen und Antworten finden müssen.»
Die klassische Abgrenzung zwischen SP-Gewerkschaftern und eher bürgerlich ausgerichteten Arbeitnehmerorganisationen wie Travail Suisse oder Kaufmännischer Verband (KV) habe nicht mehr die gleiche Bedeutung wie früher, so Hofmann. Er findet es daher richtig, dass mit Arbeit Aargau vor wenigen Monaten eine 30 000 Mitglieder umfassende Dachorganisation gegründet worden ist. Hofmann hält fest: «Die Idee ist, mit so einem Dachverband – ähnlich wie die Wirtschaft mit Gewerbeverband und Handelskammer – die Kräfte zu bündeln und über die ideologischen Grenzen hinweg gemeinsame Anliegen zu vertreten und damit mehr zu erreichen.»
Herr Vock, was ist die grösste Gewerkschafts-Herausforderung?
Florian Vock: Überall werden die Menschen heute extrem unter Druck gesetzt, sei es bei der Post, im Spital oder beim Verkauf. Für dasselbe oder womöglich gar weniger Geld sollen sie immer mehr leisten. Die Arbeit soll immer billiger werden. Das dürfen wir nicht zulassen.
Das tönt alles eher bewahrend.
Sozialstaatliche und arbeitsrechtliche Errungenschaften zu verteidigen, ist eine grosse Herausforderung. Das zeigt das Ringen um die Altersreform. Gleichzeitig müssen wir uns auch mit der Arbeit, die ständig im Wandel ist, intensiv befassen. Ich bin überzeugt, dass es unter anderem eine Arbeitszeitverkürzung braucht.
Um wie viele Stunden, und wer soll das bezahlen?
Es ist möglich, die Arbeitszeit – zu den gleichen Arbeits- und Lohnbedingungen natürlich – stufenweise zu senken. Heute kassieren Besitzer und Aktio-näre Unsummen dank Effizienzsteigerung der Arbeitenden. Dieses Geld soll man für Arbeitszeitverkürzungen, Lohnerhöhungen und bessere Pensionen einsetzen. Jede Stunde weniger pro Woche ist sinnvoll. Wir müssen unter 8 Stunden pro Tag kommen.
Wir erlebten bei der Unia eben ein Drama mit Verhaltensweisen, die Sie anderswo heftig kritisieren. Wie sehr schadet Ihnen dies?
Was da passierte, schadet uns. Wichtig ist, dass Roman Burger entlassen worden ist. Solches Verhalten darf man nirgendwo tolerieren. Gewerkschafter müssen an sich selbst die höchsten Ansprüche stellen.
Sie werden in Kürze neuer Gewerkschaftsbund-Präsident, wurden als SP-Grossrat aber abgewählt. Haben Sie nicht überlegt, zu verzichten?
Ein Sitz im Grossen Rat ist nicht der wichtigste Teil bei der Arbeit eines Gewerkschaftspräsidenten. Unsere Anliegen sind dort durch mehrere Grossräte von SP und Grünen hervorragend vertreten. Ich bin zudem in vielen weiteren Gremien vernetzt und besonders mit jenen im Austausch, die bei uns zählen: Lernende, Postangestellte, Gipser oder Coiffeusen.
Wie hoch ist Ihr AGB-Pensum?
Es ist ein 20-Prozent-Pensum, ich arbeite aber etwa 40 Prozent.
Die Hälfte gratis, schreit der Gewerkschafter in Ihnen nicht auf?
Nein, das ist kein Widerspruch. Ich werde korrekt bezahlt, die anderen 20 Prozent sind ein freiwilliges Engagement von mir in der Freizeit.
Florian Vock (26), designierter Präsident des Aargauischen Gewerkschaftsbundes, studiert Soziologie, ist an der Masterarbeit, arbeitet als stv. Betriebsleiter in einem Kulturhaus. 2015 war er Kampagnenleiter der Regierungsratskandidatur von Jacqueline Fehr.
Engagieren müssen sich die Gewerkschaften auch bei Weiterbildung und Umschulungen, die angesichts sich rasch verändernder Berufsbilder nötig werden. Hofmann fordert: «Es ist ganz wichtig, diese Menschen keinesfalls fallen zu lassen, sondern sie bei der Umschulung zu unterstützen und nicht einfach andere Leute einzustellen.» Dafür erwartet er ein entsprechendes Engagement der Betroffenen und der Arbeitgeber.
Wie beurteilt Hofmann die Sozialpartnerschaft, hält sie stand? Sie sei in den letzten Jahren nicht gestärkt worden, gibt der SP-Politiker zu bedenken. Gewerkschafter seien auch in Grossbetrieben heute oft weniger zahlreich vertreten: «Gewerkschaften braucht es aber nach wie vor, ebenso wie gegenseitiges Vertrauen, die aktuellen Fragen gemeinsam angehen und lösen zu können.»
Hofmann tritt am 1. Mai als Redner auf (vgl. Box). Ist das 1.-Mai-Ritual mit Reden und Umzug überhaupt noch zeitgemäss? Diese Frage treibt die Gewerkschafter selbst schon lange um. Man komme aber immer wieder zum selben Ergebnis, sagt Hofmann: «Die 1.-Mai-Feiern mit ihrem heutigen Volksfestcharakter sind keinesfalls geringzuschätzen. Auch ist es im Aargau als Kanton der Regionen gewiss richtig, dass mehrere dezentrale Feiern stattfinden statt eine zentrale.»
Unter dem Motto «Zukunft für alle. Sozialer. Gerechter» ruft der Aargauische Gewerkschaftsbund (AGB) die Arbeitnehmenden dazu auf, ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen. Gelegenheiten gibt es genug: Im Aargau finden am Montag, 1. Mai, acht Kundgebungen statt. Zu den prominentesten Rednern zählt Paul Rechsteiner. Der SP-Ständerat und oberste Gewerkschafter des Landes tritt in Baden und Rheinfelden auf.
Aarau: Das Fest beginnt um 16 Uhr bei der Markthalle, der Umzug um 16.55 Uhr beim Bahnhofplatz. Neben der grünen Grossrätin und Präsidentin des neuen Arbeitnehmer-Dachverbandes ArbeitAargau, Irène Kälin, tritt unter anderem der SP-Stadtpräsidiumskandidat Daniel Siegenthaler auf.
Baden: Bereits um 12 Uhr geht es los auf dem Bahnhofplatz, der Umzug durch die Badener Innenstadt startet um 14 Uhr. Auf der Rednerliste steht neben Paul Rechsteiner auch Tamara Funiciello, Präsidentin der Juso Schweiz.
Brugg: Festbeginn ist um 16.30 Uhr im Odeon. Eine Stunde später beginnen die Reden von Regierungsrat Urs Hofmann sowie seinem SP-Kollegen und Grossrat Dieter Egli.
Lenzburg: Die Feierlichkeiten auf dem Metzgplatz beginnen um 16 Uhr. Redner sind u. a. SP-Grossrätin Gabriela Suter sowie Juso-Politiker Aurel Gautschi.
Reinach: Bereits am Sonntag findet die Reinacher Maifeier (Waldhütte Stierenberg) statt. Geplant sind Ansprachen von Florian Vock (Vize-Präsident AGB) sowie Alfred Merz (Grossrat und Vizeammann aus Menziken).
Rheinfelden: Der Demomarsch zur Schifflände setzt sich um 12.45 Uhr in Bewegung. Treffpunkt ab 11.30 Uhr ist das Clublokal Colonia Libera (im Rumpel). Auftreten werden u. a. Paul Rechsteiner und Peter Koller (SP-Grossrat und Stadtratskandidat).
Wohlen: In der Kulturbeiz Chappelehof beginnt das Fest um 17.30 Uhr. Arsène Perroud (SP-Gross- und Gemeinderat) sowie Roland Lamprecht (Zentralsekretär Logistik Syndicom) halten eine Ansprache.
Zofingen: Zur Feier in der Markthalle wird ab 16 Uhr geladen. Die Reden steuern u.a. SP-Nationalrätin Yvonne Feri sowie Gross- und Stadträtin
Rahela Syed bei. (AZ)