Arbeitsmarkt
Coronavirus befällt Aargauer Lehrstellen-Markt: Was ist zu tun, damit Teenager nicht auf der Strasse landen?

Die Wirtschaft wird schrumpfen, das Angebot an Lehrstellen zurückgehen. Damit wächst die Konkurrenz. Nun gilt es Lösungen zu finden, damit die Teenager nicht auf der Strasse landen.

Sébastian Lavoyer
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Berufsberater Roberto Morandi im Homeoffice: Er würde für die Lehrstellensuche 2020 eine Verlängerung der Rekrutierungsphase begrüssen.

Berufsberater Roberto Morandi im Homeoffice: Er würde für die Lehrstellensuche 2020 eine Verlängerung der Rekrutierungsphase begrüssen.

Chris Iseli

Das Schuljahr neigt sich dem Ende zu. Aber noch längst haben nicht alle Schülerinnen und Schüler der letzten Oberstufen-Klassen eine Lehrstelle oder eine anderweitige Anschlusslösung. «Man kann davon ausgehen, dass Ende März rund 70 Prozent wissen, wie es für sie nach der obligatorischen Schulzeit weitergeht», sagt Roberto Morandi. Er ist stellvertretender Abteilungsleiter bei den ask!-Beratungsdiensten, die im Kanton Aargau Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung anbieten. Die anderen 30 Prozent seien noch auf der Suche nach einer Lehrstelle oder einer Anschlusslösung.

Seit 2008 gab es im Aargau jährlich zwischen 6100 bis 6700 Schulabgängerinnen und -abgänger, man kann also davon ausgehen, dass derzeit noch um die 2000 Jugendliche nach einer Lösung suchen. Natürlich werden von diesen längst nicht alle eine Lehrstelle finden. Die Erfahrung zeigt, dass es ab Ende Februar schwieriger wird noch einen Lehrvertrag abzuschliessen. Und das obwohl auch dieses Jahr noch immer Hunderte von Aargauer Ausbildungsplätzen unbesetzt sind. Laut Yousty.ch, der grössten Lehrstellenplattform der Schweiz, waren Ende März noch mehr als 750 Lehrstellen im Aargau offen.

Wenn es um Existenz geht, sind Lehrstellen zweitrangig

Das hat verschiedene Gründe. Zum einen gibt es Berufe, die bei den Jugendlichen nicht wahnsinnig beliebt sind – wie beispielsweise Maurer, Dachdecker oder Fleischfachfrau. Zum anderen gibt es Berufe, die zwar beliebt sind, aber hohe schulische Leistungen voraussetzen – wie beispielsweise Automatiker, Informatikerin oder Elektroniker. Angebot und Nachfrage decken sich nicht immer, wie es von der Wirtschaft gewünscht wäre. Das ist ein altbekanntes Phänomen des Lehrstellenmarktes.

Mit einem grossen Einbruch bei den Lehrstellen rechnet Roberto Morandi nicht.

Mit einem grossen Einbruch bei den Lehrstellen rechnet Roberto Morandi nicht.

Chris Iseli

Erschwerend kommt in diesem Jahr das Coronavirus hinzu. «Ich habe mich bei den Gewerblern herumgehört», sagt Kurt Schmid, Präsident des Aargauischen Gewerbeverbandes AGV, «bis Ende März wurden bloss vier Prozent weniger Lehrverhältnisse abgeschlossen als in den Vorjahren.» So heftig scheint Corona den Lehrstellenmarkt noch nicht zu beeinflussen. Das dürfte sich ändern. «Jetzt in der Schlussphase wird es entscheidend», sagt Schmid.

Die Prognosen sind düster: Der Internationale Währungsfonds geht davon aus, dass die Weltwirtschaft 2020 um drei Prozent schrumpft, der Schweiz prophezeit sie gar ein Minus von sechs Prozent. Und das alles unter der Annahme, dass die Corona-Epidemie im zweiten Quartal weltweit ihren Höhepunkt erreicht und danach zurückgeht.

Wir rechnen damit, dass es im Sommer mehr Schülerinnen und Schüler ohne Lehrstelle gibt.

(Quelle: Elisabeth Abbassi, Präsidentin des Aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes)

Natürlich, ein solcher Einschnitt trifft nicht alle Branchen gleich heftig. Eventbranche, Gastronomie und Tourismus aber zählen zu den in besonderem Mass gebeutelten. Auch Coiffeure, Kosmetik-Studios oder Arzt- und Zahnarztpraxen leiden. Roberto Morandi sagt: «Da geht es oft um existenzielle Fragen, da werden Lehrstellen plötzlich und verständlicherweise zweitrangig.» Kurzfristig, betont er. Mittelfristig mache es keinen Sinn, auf die Ausbildung von Fachkräften zu verzichten in Zeiten des Fachkräftemangels.

Unternehmer und Gewerbeverbandspräsident Kurt Schmid sagt: «Solange es keine Lockerung der Bestimmungen gibt, wird in den am härtesten getroffenen Branchen in den nächsten Wochen nichts passieren.» Eine Entwicklung, mit der auch Berufsberater Morandi rechnet: «Ich denke, es kommt zu einer zeitlichen Verzögerung von um die zwei Monate.» Deshalb fordert er von Wirtschaft und Politik, dass man sich flexibel zeige, zum Beispiel auch noch im kommenden September eine Lehre angetreten werden könne. Genauso wie es auch bei den Abschlüssen teils zeitliche und inhaltliche Kulanz brauche.

Mit einem grossen Einbruch bei den Lehrstellen rechnet Morandi nicht: «Ich glaube, dass 80 bis 90 Prozent der Lehrstellen weiter angeboten werden.» AGV-Präsident Schmid teilt den Optimismus: «Unternehmer denken langfristig. Wenn die Bewerbungen passen, dann wird man auch in den kommenden Wochen eine Lehrstelle finden» Für ihn geht es auch um ein Zeichen der Solidarität seitens der Wirtschaft. Schliesslich habe die öffentliche Hand auch mit grosszügigen Krediten und weiteren Massnahmen geholfen. Er ruft die Verantwortlichen in den Unternehmen eindringlich auf, die Lehrstellen zu besetzen.

Am härtesten trifft es Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern

Das ändert nichts daran, dass das Lehrstellenangebot schrumpfen wird und damit wächst die Konkurrenz unter denen, die jetzt noch keine Lösung haben. Am härtesten trifft es die Schwächsten. Elisabeth Abbassi, Präsidentin des Aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes sagt: «Schülerinnen und Schüler aus Integrationsklassen und jene aus bildungsfernen Milieus werden besonders leiden.»

Die «heiklen Fälle» entschieden sich erst in diesen Wochen. Da sieht Abbassi die Lehrkräfte besonders gefordert. Und das alles aus der Distanz. Die Lehrerverbandspräsidentin mag nicht schönfärben: «Wir rechnen damit, dass es im Sommer mehr Schülerinnen und Schüler ohne Lehrstelle hat als sonst.» Deshalb ihre Forderung: «Wir müssen unbedingt die Rekrutierungsphase verlängern und wenn nötig die Brückenangebote hochfahren. Jeder braucht einen Platz.»

Berufsberater Morandi pflichtet ihr bei, ergänzt aber, dass es «eine gesamtschweizerische Lösung» brauche. Wirtschaft, Politik und Schulwesen sind gefordert. Und zwar sofort. Eben hat das letzte Quartal begonnen.

Brücken der Hoffnung – Hilfe und Lösungen für Jugendliche ohne Lehrstelle

Die Zahl der Suchenden ist noch immer hoch, rund 2000 Schülerinnen und Schüler wissen noch nicht, wie es für sie nach den Sommerferien weitergeht. Für all jene ist seit dem 20. April auf der Website des Kantons Aargau der sogenannte Wegweiser aufgeschaltet. Dort kann man sich anmelden für eine Zwischenlösung.

Das lohnt sich sowieso. Denn wer später doch noch etwas findet, kann immer noch absagen. «Das ist eine Art Auffangnetz», sagt Roberto Morandi, stellvertretender Abteilungsleiter bei den ask!-Beratungsdiensten.

Das schulische Angebot der Kantonalen Schule für Berufsbildung, im Volksmund bekannt als zehntes Schuljahr, ist das meist gewählte Angebot. Fünf Tage Schule. Zeit, um bezüglich Ausbildung auf den Stand zu kommen, der gefordert ist und um eine geeignete Lehrstelle zu finden. Wer mehr Praxis braucht, der geht in ein Motivationsjahr, das heisst drei Tage Praktikum, zwei Tage Schule während eines Jahres. Oder er meldet sich bei didac.ch für einen Au-pair-Sprachaufenthalt in der Romandie oder in England an.

Zahlreiche öffentliche sowie private Brückenangebote sind in der gleichnamigen Broschüre auf der Website von ask! zusammengefasst. Ziel ist es, dass spätestens ein Jahr später alle eine Lehrstelle finden. Deshalb gibt es auch Bewerbungscoachings und «Junior Mentoring» für Jugendliche, die bei der Lehrstellensuche zu wenig Unterstützung bekommen. Und wer in eine individuelle Krise schlittert, kann bei der Berufsberatung auch psychologische Hilfe bekommen.

Sébastian Lavoyer