Mager-Lifestyle
Chefärztin schlägt Alarm: Mehr Jugendliche aus dem Aargau mit Essstörungen

Vier Prozent der Aargauer haben eine Essstörung. Anfällig sind vor allem Jugendliche – soziale Medien erhöhen den Druck.

Sarah Serafini
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Sorgen um den eigenen Körper quälen viele junge Frauen. (Symbolbild)

Sorgen um den eigenen Körper quälen viele junge Frauen. (Symbolbild)

istockphoto

Ein Mädchen in einem knapp geschnittenen Höschen und bauchfreiem Top steht vor dem Spiegel. Mit der einen Hand zieht es das Top ein wenig höher, sodass der Blick auf knöcherne Rippen frei werden. Das wenige Fleisch spannt sich über den Knochen. In der anderen Hand hält das Mädchen ihr Smartphone. Klick. Das Bild landet auf Twitter, Facebook oder Instagram.

Dürrsein ist in

Die Vorbilder aus der Welt der Stars sind nicht mehr einfach schlank oder dünn, sondern nur noch Haut und Knochen. Auf den Fotos der nackten Miley Cyrus kann man jeden ihrer Knochen zählen, die Beine von Tyler Swift spriessen aus ihrem Rock wie zwei Streichhölzer. Dass sich junge Mädchen und immer öfter auch junge Buben an dieser vermeintlich funkelnden Welt orientieren, ist nichts Neues. Anders ist allerdings, dass sich Jugendliche jetzt zusehends über die sozialen Medien unter Druck setzen.

Kontrolle, Vergleiche, Anstachelungen. Über Facebook gibt man sich Tipps, wie man noch dünner werden kann, auf Instagram werden Fotos veröffentlich, welche Fitnessübungen am wirkungsvollsten sind, in der Kommentarspalte wird gelobt und bewundert, die Beiträge verlinkt und weiterverbreitet. Das gestörte Verhältnis zum eigenen Körper ist nicht mehr krank, sondern Lifestyle.

Zahl der Magersüchtigen steigt

Bettina Isenschmid macht dieser Trend Sorgen. Sie ist Chefärztin des Kompetenzzentrums Essverhalten, Adipositas (Fettleibigkeit) und Metabolismus (Stoffwechsel) am Spital Zofingen. Von Patientinnen hört sie oft, dass ihre Magersucht im Netz begonnen habe. Isenschmid glaubt aber nicht, dass der Size Zero (entspricht der Kleidergrösse 32) Trend allein bewirke, dass die Zahl der Magersüchtigen ansteigt: «Damit jemand wirklich an einer Essstörung erkrankt, braucht es mehr als das. Magersucht ist eine psychische Krankheit, und wie der Name sagt, eine Sucht.» Eher vermutet sie, ein solcher Dürr-Lifestyle bewirke, dass die Ziffer jener höher werde, die zwar nicht direkt an Magersucht erkranken, sich aber in einem Graubereich bewegen und ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper und zur Nahrungsaufnahme entwickeln.

Schon 9-Jährige mit Essstörungen

Zudem beobachtet Isenschmid, dass die Sorge um den Körper in immer früherem Alter beginnt. Sie sagt: «Die Situation heute ist eine andere, als vor zwanzig Jahren.» Als sie mit ihrer Arbeit begann, seien 15-jährige Mädchen die klassischen Magersucht-Fälle gewesen. «Heute habe ich Patientinnen, die mit neun Jahren bereits einen Verdacht auf Anorexie aufweisen.»

Genaue Zahlen zu den Untergewichtigen im Aargau gibt es nicht. Das Bundesamt für Statistik erfasst lediglich, wie viele Menschen in der Schweiz pro Jahr im Spital aufgrund von Magersucht behandelt werden. Im 2013 waren es 832 Personen. Zwölf Prozent mehr als im Vorjahr und dreissig Prozent mehr als noch im 2010. Ein Team der Universität Zürich untersuchte im Jahr 2012 erstmals umfassend, wie weit verbreitet die Essstörungen in der Schweiz sind. In der Studie wurden über 10 000 Personen befragt. Man stellte fest: Gesamthaft rund vier Prozent leiden an einer Form von Essstörung, sei dies Magersucht, Bulimie oder sogenanntes Binge Eating (regelmässige Essanfälle). Der europäische Durchschnitt für Essstörungen liegt bei 2.5 Prozent.

Isenschmid sagt, die Zahlen der schweizweiten Studie könne zahlenmässig auf den Kanton Aargau heruntergebrochen werden. Sie schätzt darum, dass im Kanton Aargau etwa 4 Prozent der Bevölkerung vorklinische Symptome zu einer Essstörung aufweisen, das heisst, ständig über ihren Körper nachdenken, nach dem Essen ein schlechtes Gewissen haben und Kalorien zählen. Weiter schätzt sie, dass 1 bis 2 Prozent der Aargauerinnen in der Altersgruppe der 15 bis 25-Jährigen an Anorexie, also Magersucht leiden könnten, wie dies auch sonst in der Schweiz und in Westeuropa der Fall ist.

Aufklärung auch in der Schule

Um solchen Dürre-Trends entgegenzuwirken, müsse nicht nur im Elternhaus, sondern auch an den Schulen aufgeklärt werden, sagt Dominique Högger von der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er leitet die Beratungsstelle «Gesundheitsbildung und Prävention» und unterstützt Lehrer, Schulleiter oder Schulbehörden rund um das Thema «Gesundheitsförderung». Er kennt Fälle von Klassen, in denen das Schlanksein zum Muss erklärt wurde und Mädchen unter Druck gerieten, die nicht mitmachen wollten. Genauso gut könne es aber sein, dass Magersüchtige zu Aussenseitern werden, weil andere darin nichts Gutes erkennen.

«Wichtig ist sicher, dass die Lehrperson solche Phänomene kennt und falls sie in seiner Klasse auftritt, erkennen kann», sagt Högger. Oft sei es aber so, dass der Lehrer nicht alles mitbekomme oder schon so ausgelastet ist, dass er nicht auch noch auf das Wohlergehen seiner Schüler eingehen könne. Die Nachfrage zu Weiterbildungen im Bereich von Essstörungen sei eher klein, sagt Högger. Dies obwohl das Thema bei Jugendlichen immer allgegenwärtiger wird und sich laut Högger rund zwei Drittel aller Mädchen zu dick finden.