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Dank Urs Niggli gehört das Forschungsinstitut für biologischen Landbau in Frick zu den weltweit führenden Häusern, die die biologische Landwirtschaft erforschen. Warum er nicht Bildhauer wurde, wo er seine Inspiration findet, und warum es mehr Schlussfolgerungen braucht.
Über die Zufahrtsstrasse zum Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL), Ackerstrasse 113, Frick, sind orange Baustellenleitungen gespannt. In den letzten Tagen hat ein Biobauer das alte Gewächshaus, das einem Hightech-Multifunktionsbau mit Technik, Labors und neuem Gewächshaus weicht, abmontiert und abtransportiert. Vor dem Eingang zur Cafeteria sitzen an diesem Dienstagnachmittag Mitte August eine Wissenschafterin und ein Forscher über ihre Laptops gebeugt an einer Tabelle. Daneben füllt ein Mitarbeiter grüne Kunststoffgitter mit Kartoffeln auf: Versuchsgemüse günstig zu kaufen. Oben im Rebberg knattert ein Rasentrimmer zwischen den Stöcken.
Der Spatenstich für einen ganzen Reigen an Neubauten steht kurz bevor. Die Stimmung ist gut, man freut sich am FiBL, dass die Zukunft endlich beginnt.
Der Mann, der diese Zukunft zu verantworten hat, heisst Urs Niggli, Master of Agricultural Sciences ETH, Dr. sc. tech. ETH, Ehrendoktor der University of Life Sciences, Tartu, Estland, Honorarprofessor der Universität Kassel-Witzenhausen, Deutschland. Er kommt gerade von einem Meeting mit einer chinesischen Delegation, lässt dem Reporter einen Kaffee-Jeton aushändigen und setzt sich selber ohne Getränk an einen der Holztische in der Kantine. Niggli, vergangene Woche 65 geworden, ist gross und hager. Das dunkelblaue Baumwollsakko ist ihm ein wenig zu breit. Fast so, als sollte es imaginär Platz bieten für die breiten Schultern, die einer mit seinem Karriereweg braucht. Geboren in Olten, aufgewachsen in Wolfwil SO, dort, wo das Land um den Fluss nicht Aargau, sondern Aaregäu heisst. «Ich bin ein totales Landei», sagt er heute, und erinnert sich noch gut, wie er als Bub mit nach Langenthal ins Kaufhaus durfte. «So eine richtig grosse Stadt!» Vielleicht sei es der «Kampf gegen das Landei» gewesen, der ihn eine internationale Persönlichkeit habe werden lassen wollen. Der Grossvater war noch ein Kleinbauer, löste den Hof aber auf und ging als Versicherungsinspektor zur Rentenanstalt. Der Vater wird Elektroingenieur. Und der junge Urs, der ist von beidem fasziniert: der Technik und der Landwirtschaft.
Er geht ans Progymnasium nach Olten, dann an die Kantonsschule nach Aarau. Weil es gerade in allen Dörfern an Lehrern mangelt, wird aus Niggli erst einmal ein Primarlehrer im Aargau: «Die waren froh um jeden!» Am liebsten hätte er eine Bildhauerlehre gemacht. Aber der Meister, der ihn gern einstellen würde, warnt ihn präventiv: «Dir ist schon klar, dass du dein Leben lang Grabsteine machen wirst?» Diese Perspektive wiegt zu schwer auf Nigglis humorvollem Gemüt. «Ich war chli ein Öko und beschloss, etwas für eine nachhaltige ökologische Landwirtschaft zu unternehmen.» Es ist ein doppelter Entscheid für das Leben: Niggli will sich nicht mit dessen Ende, sondern dessen Beginn auseinandersetzen. Sich lieber ernähren von dem, was aus dem Boden kommt, als von dem, was in ihm bleibt.
Gleichzeitig tut sich Anfang der Siebzigerjahre etwas in Oberwil BL. Was von der Landesregierung als nicht förderungswürdig angesehen und im Parlament abgeschmettert wird, wird 1973 von einer kleinen Gemeinschaft überzeugter Pioniere gegründet: ein Forschungsinstitut für biologischen Landbau. In der Wissenschaft haben die Forscher am FiBL schnell den Ruf von Aussenseitern – was diese so gar nicht stört, sondern antreibt. Die traditionelle Landwirtschaft muss verändert werden, sind sie sich mit den wenigen hundert Ökobauern, die sie unterstützen, einig. Die ersten Richtlinien, die es für Bio-Landbau in der Schweiz gibt, haben auf vier Seiten Platz – die internationalen sogar auf nur zwei. Die experimentierfreudigen Kräfte können ein praktisch unberührtes Feld beackern und in Ruhe an einer nachhaltigen Zukunft arbeiten.
Unterdessen ist aus dem vorübergehenden Lehrer Urs Niggli ein ETH-Student der Agronomie geworden. Nach dem Abschluss geht er zum Bund: Projektleiter Unkrautregulierung, Eidgenössische Forschungsanstalt für Pflanzenbau – Gruppenleiter Unkrautforschung, Eidgenössische Forschungsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau. 1990 folgt sein Schicksalsjahr. Er bewirbt sich auf die ausgeschriebene Stelle als Direktor des FiBL, das seinen Sitz noch immer in Oberwil in einer alten stiftungsfinanzierten Villa hat. Kein Labor, kaum Technik, wenig Platz: «Sogar im Badezimmer hatten wir Arbeitsplätze. Es war alles handglismet.» Seine Vorgänger waren gut darin, «aus nichts eine gute Story zu machen». Niggli aber ist sich sicher, dass es beides braucht für längerfristigen Erfolg: «Zuerst seriöse Arbeit und dann gut verkaufen. Das habe ich beim Bund gelernt.»
Das schönste Sinnbild für den durchschlagenden Erfolg des FiBL ist die «Knospe»: Anfänglich als Institutslogo geführt, wird es später zum Zeichen für den zertifizierten Ökoanbau, dann zum immer erfolgreicheren Marketinginstrument der aus dem FiBL entstandenen Bio Suisse. Heute weiss jedes Kind: Ist die Knospe drauf, ist Bio drin. Längst zählt es zu den weltweit führenden Forschungseinrichtungen der biologischen Landwirtschaft und hat nebst dem Hauptsitz in Frick Standorte in Lausanne, Frankfurt, Wien, Brüssel, Budapest, Eurre FR. Die Erfolgsgeschichte des Instituts wurde zu jener von Niggli – oder umgekehrt. Wie gross schätzt der «Bio-Papst» (Radio SRF 2) seinen Anteil selber ein? «Naja», sagt er mit halb verlegenem, halb stolzem Schmunzeln: «16 Jahre waren ohne mich, 28 Jahre mit mir.» Der Wandel zur international anerkannten Institution sei schon unter ihm geschehen. «Aber vielleicht war ich einfach nur ein guter Surfer und habe die Gunst der Bio-Welle gut genutzt.»
Für Niggli ist klar: «Wir müssen weiterhin total innovativ sein.» Nach so vielen Jahren, wie er schon dabei sei, laufe man Gefahr, Ideen von Jungen abzutun mit Worten wie: «Das haben wir schon fünfmal erfolglos ausprobiert.» Das sei falsch: «Jede Zeit hat wieder ihre neuen Möglichkeiten, etwas auszuprobieren.» Dem vierfachen Vater und inzwischen sechsfachen Opa kommen die besten Ideen im Gespräch («Meine Mitarbeitenden sind die grösste Inspiration!») oder beim Lesen. Fachliteratur, Belletristik, Philosophisches. Seine Stärke sei es, Wissen zu kondensieren. Die meisten Wissenschaftler seien heute perfekt, aber hilflos: «Weil ihnen der gesellschaftliche und politische Kontext fehlt. Es gibt leider je länger, je weniger Leute, die imstande sind, Schlussfolgerungen zu ziehen», beklagt Niggli. Dabei müsste die alte Schule wieder die neue werden: «Wir brauchen nicht noch mehr Spezialisten, sondern mehr Interdisziplinarität!»
Und wie lange gedenkt der «Bio-Papst» noch weiterzusurfen? «Bis 2021.» Wenn in Frick die Zukunft eröffnet wird, will er nicht mehr als Direktor, sondern als Pensionär dabei sein. Das sei eben auch Biologie: Lernen, dass die Umwelt sehr wohl auf einen verzichten könne – und man nicht für immer gleich viel Kraft habe.