Wegweisende Abstimmung
Bern sagt Nein zu Sozialhilfe-Kürzung: Was bedeutet das für den Aargau?

Das Berner Nein zu einer Sozialhilfekürzung führt zu einem Streit um die Bedeutung des Ergebnisses. Im Aargau war man auf diese Abstimmung besonders gespannt, sind hier doch bei der Regierung zwei Vorstösse für eine Einschränkung bei der Sozialhilfe hängig. SVP und SP sehen sich bestätigt, die FDP will das System hinterfragen.

Mathias Küng
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Bern sagte gestern Nein zu einer Kürzung der Sozialhilfe. Die Grossräte Martina Bircher (l., SVP), Dieter Egli (m., SP) und Martina Sigg (r., FDP) sind sich nicht einig, was dieses Ergebnis für den Aargau bedeutet.

Bern sagte gestern Nein zu einer Kürzung der Sozialhilfe. Die Grossräte Martina Bircher (l., SVP), Dieter Egli (m., SP) und Martina Sigg (r., FDP) sind sich nicht einig, was dieses Ergebnis für den Aargau bedeutet.

Keystone/Gaetan Bally/zvg/Severin Bigler/zvg

Die Stimmbevölkerung des Kantons Bern hat gestern eine Vorlage des Kantonsparlaments zur Kürzung von Sozialhilfe knapp mit 52,6 Prozent Nein verworfen. Die Vorlage hätte es der Regierung ermöglicht, den Grundbedarf für alle Sozialhilfebezüger um bis zu acht Prozent unter den Wert zu senken, den die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) vorsehen. Ebenso hat sie auch einen Volksvorschlag knapp abgelehnt, der einen Ausbau, nämlich Ergänzungsleistungen statt Sozialhilfe für ältere Arbeitslose forderte.

Viele Beobachter meinten im Vorfeld – und kommentieren es jetzt so –, diese Abstimmung bringe auch für andere Kantone eine Weichenstellung. Was heisst das folglich für den Kanton Aargau, in dem bei der Regierung seit etwas mehr als einem Jahr ein ähnlicher Vorstoss aus dem Grossen Rat hängig ist?

Bircher: Stadt kippte Ergebnis

«Das knappe Nein in Bern heisst für uns, dass wir im Aargau auf gutem Weg sind.» Dies sagt SVP-Grossrätin Martina Bircher, Sprecherin der Gruppe von Grossräten aus SVP, FDP und CVP, die mit einem mit 71:53 Stimmen überwiesenen Postulat eine Überprüfung der Sozialhilfe im Aargau auf den Weg gebracht haben. Wie meint sie das? Bern habe die Vorlage eigentlich gutgeheissen, sagt Bircher: «Erst die Stadt Bern mit ihren vielen Beamten hat das Resultat dann gekehrt. Zudem ist die Sozialhilfe dort anders organisiert, weniger spürbar für die Steuerzahler. Bei uns zahlen die Gemeinden. Die Menschen spüren dies dann über den Steuerfuss direkt in ihrem Portemonnaie.»

Martina Bircher, Grossrätin SVP, Sprecherin eines Vorstosses zur Sozialhilfe «Das knappe Nein imKanton Bern heisst für uns, dass wir im Aargau auf gutem Weg sind.»

Martina Bircher, Grossrätin SVP, Sprecherin eines Vorstosses zur Sozialhilfe «Das knappe Nein imKanton Bern heisst für uns, dass wir im Aargau auf gutem Weg sind.»

Im Aargau seien zudem zwei Vorstösse unterwegs, betont Bircher. Einer verlange die Prüfung von «Motivation statt Sanktion». Ein zweiter wolle die Höhe der Sozialhilfe davon abhängig machen, ob jemand vorher Steuern bezahlt hat oder nicht. Die massive Kritik von links, man höhle so das System aus, lässt Bircher, Vizeammann von Aarburg, nicht gelten: «In Bern zog das Schlagwort von der Kürzung der Sozialhilfe. Das stimmt aber so nicht. Wer sich engagiert, hätte bei uns künftig gleich viel Geld oder gar mehr als heute. Weniger hätte, wer sich verweigert. Und das finde ich auch richtig so.»

Sigg: Arbeit muss sich lohnen

Auch für die FDP-Grossrätin und Sozialpolitikerin Martina Sigg ist das Thema längst nicht vom Tisch, zumal die Aargauer Vorstösse nicht identisch mit der Berner Vorlage seien. Sie basierten vor allem auf einem Anreizsystem. Sigg erwartet, dass die Regierung Vorschläge auf den Tisch legt «und dass dabei Erkenntnisse aus der Berner Abstimmung mit einfliessen».

Martina Sigg, Grossrätin FDP und Sozialpolitikerin «Arbeit muss sich lohnen. Es darf keine falschen Anreize geben, um in der Sozialhilfe zu bleiben.»

Martina Sigg, Grossrätin FDP und Sozialpolitikerin «Arbeit muss sich lohnen. Es darf keine falschen Anreize geben, um in der Sozialhilfe zu bleiben.»

zvg

Was meint sie damit? Sigg: «Das Berner Resultat ist ein Zeichen, dass auch in der Sozialhilfe das Solidaritätsprinzip zuoberst bleibt. Das muss aber auch zwischen den Kantonen funktionieren. Es darf nicht geschehen, dass Sozialhilfeempfänger von einem Kanton in einen grosszügigeren zügeln. Die Sozialhilfe ist vor allem so auszugestalten, dass Schwelleneffekte abgebaut werden und weist dabei auf ein hängiges Postulat der FDP hin. Arbeit muss sich lohnen und es darf keine falschen Anreize geben, um in der Sozialhilfe zu bleiben.» Wie es genau gemacht werden soll, sei auszudiskutieren, sobald die Regierungsvorschläge vorliegen, sagt Sigg weiter: «Unser System muss solidarisch bleiben. Es darf aber hinterfragt werden. Genau das werden wir tun.»

Egli: Warnung vor roter Linie

Vollständig anderer Meinung ist der SP-Co-Fraktionschef im Grossen Rat, Dieter Egli. Er ist sehr erleichtert, dass im Kanton Bern «der Frontalangriff auf die Sozialhilfe abgelehnt worden ist». Die Vorlage sei purer Populismus gewesen. Das hätten die Menschen erkannt und gespürt. Auch, dass es um eine grundsätzliche Weichenstellung ging. Für Egli zeigt das Ergebnis, «dass die Menschen den Wert der Sozialhilfe schätzen».

Dieter Egli, Grossrat SP, Co-Fraktionschef «Eine Systemänderung würden wir mit aller Kraft bekämpfen, juristisch und mit Referendum.»

Dieter Egli, Grossrat SP, Co-Fraktionschef «Eine Systemänderung würden wir mit aller Kraft bekämpfen, juristisch und mit Referendum.»

SEVERIN BIGLER

Die Bürgerlichen im Grossen Rat warten aber weiterhin auf Vorschläge der Regierung zu den überwiesenen Vorstössen zur Sozialhilfe. Wie soll es aus Sicht der SP weitergehen? Er erwarte von den Bürgerlichen, dass sie ihre Position überdenken, sagt der SP-Co-Fraktionschef. Von der Regierung erwartet er jetzt, dass sie gar nicht auf diese Forderungen der bürgerlichen Ratsmehrheit eintritt: «Sie hat sich ja schon bei der Beantwortung der beiden Vorstösse zu Recht sehr skeptisch gezeigt.»

Mit einer Individualisierung würde die Sozialhilfe ausgehöhlt, ist Egli überzeugt: «So eine Systemänderung wäre untragbar. Das würden wir mit aller Kraft bekämpfen, juristisch und mit dem Referendum. Wir sind sicher, dass wir vor Gericht und beim Volk recht bekämen. Diese Aushöhlungsideen der Bürgerlichen sind chancenlos.» Für die SP gelten die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) als oberste Richtschnur. Egli: «Diese rote Linie darf man nicht unterschreiten.»