Lucas Fischer
Aufstieg, Höhepunkt, Rücktritt: Das Drama des Jahrhunderttalents

Diese Woche hat Lucas Fischer seinen Rücktritt verkündet. Damit endet eine vielversprechende Turnerkarriere nach einem grossen Triumph und vielen Rückschlägen.

Manuel Bühlmann
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Freud und Leid: Zweieinhalb Jahre auf den grössten Erfolg an der EM folgt diese Woche mit dem Rücktritt der schwerste Moment.

Freud und Leid: Zweieinhalb Jahre auf den grössten Erfolg an der EM folgt diese Woche mit dem Rücktritt der schwerste Moment.

Keystone

Sieben epileptische Anfälle, fünf Fussoperationen, zwei Knieoperationen, ein Handgelenkbruch, chronische Rückenprobleme – Lucas Fischers Leidensgeschichte ist lang. Schmerzen begleiten den Turner seit Jahren, Tag für Tag. Nun hat er genug, tritt zurück. Obwohl er Ende August gerade mal 25 Jahre alt geworden ist. Das Turnen ist zur Qual geworden. Es tue ihm weh, diesen Schritt zu gehen, teilte Fischer seinen Fans mit. «Mein ganzes Leben drehte sich um meine grosse Passion.» Die emotionale Pressekonferenz, an der Fischer diese Woche seinen Rücktritt erklärte, bildet gleichzeitig das Ende einer nicht enden wollenden Pechsträhne und der Karriere eines Jahrhunderttalents – ein Drama in fünf Akten.

Der Aufstieg: Als 5-Jähriger beginnt Lucas Fischer mit dem Kunstturnen. Seine Grosseltern turnten, seine Eltern turnten. Ein anderer Sport kam für ihn gar nie infrage. «Ich wollte immer turnen», sagt er. Schnell zeigt sich sein Talent. Er schafft den Sprung in das Jugend- und in das Nachwuchskader, gewinnt die ersten Titel. 2007 dominiert er die Schweizer Meisterschaften der Junioren in Lugano, holt fünf Goldmedaillen. «Nächster Schritt nach oben», titelte die «Aargauer Zeitung». Fischer gilt als die grösste Nachwuchshoffnung der Schweizer Turnszene. Die Erwartungen sind hoch. Heute sagt er: «Ein hoher Druck lastete auf mir, damit umzugehen, war nicht leicht.»

Die Rückschläge: Die ersten Krisen lassen nicht lange auf sich warten. Er bricht sich das Handgelenk, leidet an chronischen Rückenschmerzen. Die Europa- und Weltmeisterschaften 2009 finden ohne ihn statt. Ein Jahr später trifft ihn der nächste Schicksalsschlag: Im Elternhaus in Möriken erleidet er – mit 20 Jahren – den ersten epileptischen Anfall. Diagnose: Grand-mal-Epilepsie. Er weiss nicht, ob er trotz Krankheit weiterturnen kann. Als «beängstigend» empfindet er den Vorfall. Es sollte nicht der letzte sein.

Den schlimmsten Anfall erleidet er während der Vorbereitung zur Weltmeisterschaft 2011 bei einer Turnübung am Boden. Zwei Träume platzen auf einmal: Fischer kann weder an der WM in Tokio noch an den Olympischen Spielen in London teilnehmen. «Damals brach für mich eine Welt zusammen.» Er nimmt eine Auszeit, beginnt zu singen. Der Sport lässt ihn trotz aller Widrigkeiten nicht los. «Ich wollte nicht aufgeben, meinen Traum weiterverfolgen.» Sein Schicksal bewegt, der Aargau leidet mit: 2011 gewinnt er die Wahl zum «Aargauer Sportler des Jahres». 2013 holt er den Titel erneut und wird zum «Aargauer des Jahres» erkoren. Seine Popularität erklärt er sich mit dem Auf und Ab, das er durchmachen muss: «Ich habe schwere Zeiten erlebt und es trotzdem geschafft, das Beste daraus zu machen. Das motiviert viele Leute.»

Der Höhepunkt: Macht sein Körper mit, zeigt Fischer sein Talent. Im März 2013 landet er an einem Weltcup-Wettkampf in Cottbus auf dem Podest; er wird Dritter. Kurz darauf feiert er seinen grössten Triumph: In Moskau gewinnt er am Barren die EM-Silbermedaille. Der Jubel ist gross, die Erleichterung auch. «Das Schweizer Supertalent feiert in Moskau den grössten Erfolg für das Schweizer Männer-Kunstturnen seit sieben Jahren», schreibt der «Blick». Sein Trainer sagt: «Er ist unsere Perle, er kann alles.» Wieder scheinen ihm alle Wege offenzustehen, wieder ereilt ihn ein Dämpfer.

Die Ernüchterung: Im Sommer erleidet er einen epileptischen Anfall. Fischer, der zu den Favoriten zählt, muss auf die WM verzichten. Den Entscheid gibt er an einer Medienkonferenz bekannt und sagt: «Psychisch geht es mir nicht gut. Ich erhole mich nur langsam.» Eine Knieoperation, eigentlich für nach der WM geplant, wird vorgezogen. Doch sie verläuft nicht nach Wunsch, ein zweiter Eingriff ist nötig. Die Zwangspause wird länger und länger. Ein halbes Jahr muss er das Training aussetzen, beginnt danach wieder bei null. Später bezeichnet er diese Phase als «die schwerste Zeit, die ich je erlebt habe». Die Teamkollegen in Magglingen überholen ihn. «Es ist schon schwierig, wenn ich sehe, wo die anderen stehen und wo ich derzeit stehe. Da liegen Welten dazwischen.»

Er nimmt die Dienste eines Sportpsychologen in Anspruch, kämpft sich zurück. Noch Ende des letzten Jahres sagte er in der «Aargauer Zeitung»: «Ich will bis 2020 weitermachen. Ich habe das Gefühl, dass ich noch nicht all das erreicht habe, was ich erreichen kann.» Sein grosser Traum sind die Olympischen Spiele 2016 in Brasilien. Vor einem Monat tritt er in der SRF-Sendung «Mein Weg nach Rio» auf.

Der Rücktritt: Doch auch dieser Traum platzt. Mitte Woche ist er zurückgetreten, wegen einer schmerzhaften Warze an der Hand hätte er erneut pausieren müssen. Einige Tage nach dem Abschied sagt Fischer: «Nun wird langsam real, dass das Turnen nicht mehr Alltag ist.» Er plant seine Zukunft, sucht einen Job. Doch daneben zieht es ihn ins Rampenlicht, dort, wo sich der extrovertierte Möriker so wohl fühlt.

Reden, Podien, Motivationsseminare, Konzerte – reizen würde ihn viel. Heute steht er bereits wieder im Fokus: Er ist Gast im «Sportpanorama». Was danach kommt, ist offen. Fest steht: «Ich möchte etwas machen, hinter dem ich mit der gleichen Leidenschaft stehen kann, wie ich das beim Turnen konnte.»