Die gute Tat
Auch das Kantonsspital Aarau bunkert «Gold»

Früher nährten Ammen fremde Kinder an ihrer Brust. Heute wird diese Aufgabe in sechs Schweizer Spitälern wahrgenommen. Auch im KSA gibt es das Ammenwesen 2.0: Eine Muttermilchbank mit «weissem Gold». Es kommt vor allem Frühgeburten zugute.

Claudia Landolt
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Muttermilch kann Leben retten

Muttermilch kann Leben retten

Keystone

Ob im Altertum, bei den alten Ägyptern, bei den Römern oder noch im 19. Jahrhundert: Der Beruf der Amme war seit jeher ein einträgliches Geschäft. Für viele war der Beruf eine Chance, ärmlichen Verhältnissen zu entkommen.

Denn Ammen lebten oft bei den wohlhabenden Familien, wurden gut genährt, gepflegt und genossen unter den Hausangestellten eine privilegierte Stellung. Ammen waren in der feinen Gesellschaft ein Statussymbol und beliebt: Erstens konnte die Frau des Hauses schneller wieder schwanger werden und so die Nachfolge der Dynastie sichern, zweitens galt Stillen zu manchen Zeiten als unschicklich.

Noch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in vielen Krankenhäusern Ammen beschäftigt, um die Ernährung der Neugeborenen sicherzustellen.

Kantonsspital Aarau (Archiv) Das KSA ist eines von sechs Schweizer Spitälern, in deren Kinderklinik eine Muttermilchbank für Frühgeborene eingerichtet ist.

Kantonsspital Aarau (Archiv) Das KSA ist eines von sechs Schweizer Spitälern, in deren Kinderklinik eine Muttermilchbank für Frühgeborene eingerichtet ist.

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Heute erlebt Muttermilch einen Boom

Während noch in den 80er Jahren Stillen als verpönt galt, belegen Zahlen ab 1994 bis 2003 eine deutliche Zunahme, welche zu einem grossen Teil auf die Stillförderung der letzten Jahre zurückzuführen ist.

Mittlerweile stillen Mütter in der Schweiz im Schnitt ihre Baby 17 Wochen lang. Doch nicht alle Mütter können stillen. Stillen will gelernt sein, zudem dauert es ein paar Tage, bis die Milch einschiesst. Bei kleinen Frühchen fehlt häufig noch die Kraft, um überhaupt an der Brust zu saugen und schlucken zu können.

Experten sind sich einig: Für kleinste und kleine Babies ist die Muttermilch besonders wertvoll. So wertvoll, dass es schon mal als «das weisse Gold» bezeichnet wird. «Die Neonatologie hat in den letzten Jahrzehnten Enormes geleistet.

Unser Ziel ist es aber nicht nur, dass Frühgeborene überleben, sondern auch, dass sie ein gutes, möglichst beschwerdefreies Leben führen können», sagt Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche, Prof. Henrik Köhler. Entwicklungs- und Lernschwächen sei insbesondere bei Frühchen ein Thema. «Die Vorteile der Muttermilch ist bisher unerreicht.»

Besser als Pulvermilch

Allen Bemühungen zum Trotz ist es der Nahrungsmittelindustrie bislang nicht gelungen, die Muttermilch in einer identischen Zusammensetzung synthetisch herzustellen. Deren Vorteile sind hinreichend bekannt; ihre Inhaltsstoffe - Eiweisse, Fette, Enzyme, Wachstumsfaktoren, Antioxydantien - sind wahre Wunderwerke, ihr Zusammenspiel hochkomplex und einzigartig.

Die Fettzusammensetzung etwa ist so ausgeklügelt, dass sie sich zu jedem Zeitpunkt den Bedürfnissen des Babies anzupassen vermag. Sie ist ein wichtiger Baustein für die Reifung des Gehirns.

Die Antikörper der Muttermilch sind für die Entwicklung des noch unreifen Ökosystems des Darms entscheidend. Frühgeborene, die Muttermilch (über die Magensonde) bekommen, haben weniger Magen-/Darminfektionen und entwickeln sich psychomotorisch besser als Babys, die mit künstlicher Milch ernährt wurden.

Ammenwesen 2.0 in Aarau, Basel, Bern, Luzern, St. Gallen

Da es keine Ammen mehr gibt, haben in sechs Schweizer Spitälern sogenannte Milchbanken diese Funktion ersetzt, unter anderem auch im Kantonsspital Aarau. In der Milchküche der Neonatologie wird gespendete Milch gesammelt, pasteurisiert und aufbewahrt. Die Milch stammt von Müttern, die selbst früh geboren haben und deren Babies noch im Spital sind.

Die Spenderinnen mit überschüssiger Milch werden von Fachpersonen des KSA in einem strengen Verfahren, ähnlich einer Blutspende, ausgewählt. Bei der Auswahl der Spenderinnen scheidet eine Raucherin scheidet ebenso aus wie eine Veganerin, oder eine Frau, die sich kürzlich in einem tropischen Land aufhielt, geimpft wurde oder sich ein Tattoo oder Piercing stechen liess.

Ein Bluttest ist unumgänglich, die Milch der Milchbanken wird im Labor zusätzlich auf Keime geprüft und pasteurisiert. «Wir legen Wert darauf, die Mütter zu kennen», erläutert der Leitende Arzt der Neonatologe des KSA, Dr. Georg Zeilinger. Ebenso wichtig ist, dass die Spenderin sich peinlich genau an die hygienischen Vorschriften hält.

Muttermilch kann Frühchenleben retten

Aber auch kranke Neugeborene, die dringend Muttermilch benötigen, von ihren Müttern aber nicht selbst gestillt werden können, erhalten die wertvolle Milch.

Die allermeisten Frühchen im Kantonsspital Aarau KSA brauchen die Spendemilch nur zum Überbrücken, wie Norbert Zeilinger ausführt, vor allem zwischen der 26. und der 33. Lebenswoche «Wenn die Mutter eines Frühchens den Schock der Frühgeburt fürs Erste überwunden hat, kommt meistens auch ihre Milch zum Fliessen. Dann kommt die Pumpe zum Einsatz. Später, wenn das Kind kräftiger ist, wird sie es an der Brust stillen oder ihm ihre Milch mit der Flasche geben.»

Im KSA existiert die Muttermilchbank schon seit 30 Jahren. Einen Engpass gab es bis anhin noch nie, sagt Zeilinger. In den rund sechs Schweizer Spitälern mit einer eigenen Muttermilchbank haben im letzten Jahr 80 Spenderinnen rund 815 Liter abgepumpt. Diese wurde von 415 Empfänger-Kindern verdaut.

Da frühgeborene Kinder in der Schweiz dank der modernen Fortpflanzungsmedizin, der Neonatologie und dem steigenden Alter der Mütter häufiger auftreten als früher -neun Prozent aller Babys sind Frühchen - , nimmt der Bedarf an Muttermilch zu, insbesondere, da die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, Muttermilch, selbst wenn es fremde ist, einer Pulver-Milch zum Wohle des Kindes vorzuziehen.

Reges Geschäft mti der Muttermilch

Doch nicht nur Mütter von Frühgeborenen können oft nicht selber stillen. Manche Frauen mit termingeborenen Kindern können aus gesundheitlichen Gründen nicht stillen, etwa wegen einer Depression und Medikamenten, wegen übertragbaren Krankheiten wie HIV oder wegen einer Brustentzündung.

Einige dieser Mütter wollen ihrem Kind trotzdem die Vorteile von Muttermilch zu Gute kommen lassen und suchen Spendermilch. Im Internet werden sie fündig: In der Facebookgruppe «Human Milk 4 Human Babies - Switzerland» bieten Mütter mit überschüssiger Milch ihre tiefgefrorene Milch an.

Ihr Vorbild: Muttermilchbanken aus den USA. Dort haben findige Mütter ein neues, lukratives Geschäftsmodell entdeckt: Sie bieten ihre abgepumpte, frische oder tiefgekühlte Brustmilch gegen Bares an.

«Wer Milch bezieht oder verschenkt, sollte sich der Gefahren bewusst sein», ermahnt Jolanda Widmer. «Milch ist eine lebendige Substanz. Es ist, als würde man sich Blut abzapfen und jemand anderem schicken.»