Marit Neukomm
Aargauerin sammelt 55 Tonnen Hilfsmaterial – doch der Rhein lässt sie im Stich

Die «Aargauerin des Jahres», Marit Neukomm, sammelte mit ihrem Hilfswerk 55 Tonnen Hilfsmaterial. Doch die Container können noch nicht verschifft werden, weil der Rhein zu wenig Wasser führt.

Mario Fuchs
Drucken
Marit Neukomm sammelte 55 Tonnen Hilfsgüter für Syrien
5 Bilder
Neue Ladung aus Zürich: Innerhalb von fünf Minuten ist der kleine Lastwagen geleert.
Prüfender Blick: Helfer kontrollieren bei Kleidern, ob sie sauber und noch zu tragen sind, binden oder kleben Schuhpaare zusammen.
Gleich zu gleich: Für die verschiedenen Kleidertypen, Grössen und Alter (Mann, Frau, Kind, Baby) stehen verschiedene Kartons bereit.
Abschliessen und Erfassen: Ist ein Karton gefüllt, wird er zugeklebt, etikettiert und in der Statistik erfasst.

Marit Neukomm sammelte 55 Tonnen Hilfsgüter für Syrien

Mario Fuchs

Die passt ned do häre», sagt Marit Neukomm und schaut skeptisch in die grosse grüne Einkaufstasche. Aufschrift: «Jelmoli – A HOME FOR CHRISTMAS». Inhalt: Kinderspielzeug. Wie zweideutig ihr Satz ist, merkt die «Aargauerin des Jahres» 2016 nicht. Denn an diesem Dienstagabend hat sie eigentlich gar keine Zeit, um selber Spenden zu sortieren.

Eigentlich spricht sie grad mit dem az-Reporter darüber, wie überrascht man ist, dass innert eines Monats 55 Tonnen warmer Kleider, Schuhe, Sanitätsmaterial, Schlafsäcke, Windeln, Damenbinden, Zahnpasta, Kinderwagen, Reisebetten, Matratzen, Thermosflaschen zusammengekommen sind. Eigentlich kommen grad eine Mutter und ihre Töchter herein, umarmen die Chefin zur Begrüssung, fragen: «Wo selle mer asuuge?».

Aber die grüne Tasche kann hier nicht stehenbleiben. Das Spielzeug hat zwischen bereits sortierten Schals und Mützen nichts verloren. Die Chefin bringt den Inhalt zum Spielsachen-Karton. Ein Wasserball wird aussortiert. Der hilft im syrischen Flüchtlingscamp niemandem.

Statistik führen am Laptop

Es war Ende Dezember, als Marit Neukomm mit ihrer Organisation «Volunteers for Humanity» in Zeitungen, im Radio, auf Facebook und Werbeflyern die Aargauer Bevölkerung zum Spenden von Winterkleidern für Kriegsflüchtlinge aufrief. «Wir rechneten, einen Container füllen zu können», erzählt die Turnlehrerin aus Oberentfelden. Jetzt wird man drei Container brauchen.

3130 volle Kartonkisten stapeln sich bereits in dieser Industriehalle in Schöftland, und bis die Speditionsfirma nächste Woche vorfährt, werden es noch einige hundert mehr sein. «Es ist eine Riesenfreude!», ruft Marit Neukomm, halb begeistert von der Menge, halb überfordert davon. «Es gab schon Momente, da stand ich hier vor diesem Berg an Kleidersäcken und fragte mich: Wie schaffen wir das bloss?» Aber schliesslich könne man ja mit seinen Aufgaben wachsen.

Meterhoch wachsen die Plastiksäcke mit gesammelten Hilfsgütern die Hallenwand hinauf. Gerade trifft wieder eine Ladung aus Zürich ein. Eine Menschenschlange formiert sich, der kleine Lastwagen ist nach fünf Minuten geleert. Auf Festtischen leeren Helferinnen und Helfer Sack um Sack. Kontrollieren bei Kleidern, ob sie sauber und noch zu tragen sind. Binden oder kleben Schuhpaare zusammen. Sortieren das Material in bereitstehende Kartons nach Typ, Grösse, Geschlecht. Springer kleben die gefüllten Kisten zu. Auf einer Etikette wird der Inhalt in Schrift und Piktogrammen deklariert.

Zwischen aufgetürmten Kartons sitzt Danja mit ihrem Macbook. Sie erfasst in einer Tabelle jede fertige Kiste. «Gestern haben wir die dreitausendste Kiste gemacht», erzählt sie. Gabs einen Jubelschrei? «Nein», sagt Danja und lacht: «Wir haben einfach weitergemacht!»

Paletten statt Portionen

Über 100 Freiwillige haben sich in den letzten Wochen bei Marit Neukomm und ihrem Team gemeldet. Aus dem ganzen Aargau, aus Luzern, aus Zürich. So etwa Lukas Lieberherr, Pflegefachmann aus Schöftland. Er sagt: «Müsste ich traurig und frierend in einem Flüchtlingscamp ausharren, wäre ich auch froh um Hilfe.»

Auch Asylsuchende packen mit an. Während seine Schweizer Kollegen nach Feierabend kommen, hat Hassan aus Syrien auch tagsüber Zeit. Er kann dabei etwas Sinnvolles tun, neue Kontakte knüpfen – und gleichzeitig seinen Landsleuten in der Heimat helfen. Hassan klebt eine Kiste zu, gibt sie weiter zum Etikettieren und sagt: «Unterstützen, was möglich isch!»

Ein Helfer kam sogar extra aus Chur angereist. «Es ist der Wahnsinn! Einfach überwältigend», sagt Koordinatorin Neukomm. Inzwischen habe man für jedes Problem jemanden, der es lösen könne, oder jemanden kenne, der es lösen könne. Und: «Überall gehen wieder neue Törli auf.» Etwa, als man bei der Hero in Lenzburg anrief und vorsichtig fragte, ob sie einige Portionen Babymilch-Pulver spenden würde.

Gegenfrage: «Wie viele?» – Vielleicht eine Palette, wenn das möglich wäre? – «Nein, wir meinen: Wie viele Paletten?» Das Zürcher Unternehmen Intigena spendete einen ganzen Container Damenbinden, die Lagerhäuser Aarau Kartonschachteln. Und die Halle im Schöftler Dreistein-Areal kostet auch nichts: Immobilienunternehmer und Baugutachter Beat Michael Wälty stellt sie samt Gabelstapler und Heizkosten kostenlos zur Verfügung. Auf die Frage, warum er das tue, fragt Wälty zurück: «Warum nicht?» Verglichen mit vertriebenen syrischen Familien hätten «wir in der Schweiz eh alle zu viel».

Auch mal schlafen

Wer mithilft, ist konzentriert bei der Sache – aber nicht zu sehr. Zwischen den Geräuschen abrollender Klebebänder und aufklappender Kartonschachteln sind immer wieder herzliche Lacher zu hören. Eine junge Frau macht ein Foto von ihrer Kollegin: Die Retro-Pelzjacke muss festgehalten werden. Doch viel Zeit bleibt dem Team nicht mehr: Am nächsten Montag wird der erste Container mit Kisten beladen, nach Basel gefahren und von dort auf dem Rhein in Richtung Syrien geschickt (siehe nachfolgende Box).

Auf dem Schiff in Richtung Syrien

Die Hilfsgüter sind für Flüchtlingslager in syrischen Grenzgebieten bestimmt. Warum fehlendes Schmelzwasser den Transport verzögert.

Die gegenwärtig kalten Wintertemperaturen erschweren nicht nur den Menschen in Flüchtlingslagern das Leben, sondern den Helfern in der Schweiz auch ein Stück weit die Arbeit. Denn: Bereits heute hätte ein erster Container von «Volunteers for Humanity» mit Kisten voller Winterkleidern und anderen wichtigen Hilfsgütern in Schöftland beladen werden sollen. Dieser Zeitplan musste allerdings der Kälte wegen angepasst werden. Denn: Die Container werden mit dem Lastwagen nach Basel gebracht und dort auf ein Transportschiff verladen. Von dort aus führt die Reise via Rotterdam in den türkischen Hafen von Mersin nah der syrischen Grenze.

Doch: Weil zurzeit kein Schmelzwasser in den Rhein fliesst, ist der Pegelstand aktuell so tief, dass die Transportschiffe nur mit der halben Last beladen werden können, um ein Auflaufen zu verhindern. Die Container stauen sich deshalb in Basel. Die Problemzone im Rheinpegel liegt dabei nicht in den Schweizerischen Rheinhäfen, sondern weiter flussabwärts, wie Rheinhäfen-Sprecher Daniel Kofmel gegenüber der «Nordwestschweiz» erklärte.

Neue Dimension erreicht

Als neuer Ladetermin wurden nun Montag und Dienstag nächster Woche bestätigt. Von Mersin aus wird voraussichtlich ein Container in ein türkisches Flüchtlingslager (Gaziantep), einer in ein syrisches (Idlib oder Latakia) und einer ins grosse jordanische Camp (Zaatari) geschickt. Aufgrund der Sicherheitslage können die Aargauer die Container nicht bis zum Bestimmungsort begleiten – sie sind dafür auf eine Partnerorganisation vor Ort angewiesen. Entsprechende Kontakte wurden frühzeitig geknüpft.

Ein Container mit medizinischer Hilfe verliess den Aargau bereits vor anderthalb Wochen. Er dürfte Mitte Februar in Mersin ankommen. Die Erfahrungen daraus werden Marit Neukomm und ihr Team für die Transporte von nächster Woche nutzen – denn in dieser Dimension sind Menge und Koordination neu für sie. Alle bisherigen Transporte fuhren sie selber mit Lastwagen in den Balkan. (rio)

Irgendwann gegen 21 Uhr muss Marit Neukomm an diesem Dienstagabend nach Hause. Seit 7 Uhr am Morgen stand sie mit Schülern für ein Spielturnier in der Turnhalle. Auch eine «Aargauerin des Jahres» muss zwischendurch mal schlafen.