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30 000 Jahre Freiheit hat die Justizvollzugsanstalt Lenzburg in den letzten 150 Jahren ihren Gefangenen entzogen. Eine erschreckende Zahl, wenn man bedenkt, wie viel Gutes mit 30 000 Jahren Freiheit möglich wäre. Dabei war es doch ganz anders gedacht
Geradezu euphorisch hatte sich der erste Direktor Rudolf Müller bei der Eröffnung der Strafanstalt 1864 geäussert: «Wir werden uns gewöhnen, die Strafanstalt als eine verspätete Erziehungsanstalt und als eine Ergänzung bei solchen zu betrachten, bei welchen Schule, Haus und Kirche nicht genügten, um sie auf den Weg der Sittlichkeit und Tugend zu leiten oder zurückzuführen.»
Das System der Besserung: Mit Religion, Schule und geeigneter Arbeit sollten die «entgleisten Sträflinge» zu guten Menschen erzogen werden.
Die am 22. August 1864 eingeweihte Strafanstalt Lenzburg, erbaut nach den Plänen des Badener Architekten Robert Moser (1833–1901) galt damals als modernste Strafanstalt Europas.
Auch der Strafvollzug galt als äusserst fortschrittlich: Prügel- und Kettenstrafen wurden abgeschafft, es gab Einzelzellen und ein Minimum an Bildung.
«Das neue Haftsystem sollte jetzt endlich der Kriminalität einen Riegel schieben. Doch es kam anders», sagt Publizist Peter Schulthess, der sich zwei Jahre lang mit der Geschichte der Strafanstalt Lenzburg beschäftigt hat. Frustriert trat der erste Direktor Müller nach acht Jahren zurück.
Bisher haben über 41 000 Menschen höchst unfreiwillig einen Teil ihres Lebens im Lenzburger «Fünfstern-Bau» verbracht. Die Einzigen, die freiwillig innerhalb der Anstaltsmauern wohnten, waren die Direktoren. Sie residierten bis 1981 mit ihren Familien in der Direktorenwohnung, waren als «Patrons» omnipräsent und stets erreichbar.
Die Geschichte der JVA Lenzburg ist untrennbar mit der Geschichte ihrer sieben Direktoren verbunden. Direktor der Strafanstalt zu sein, das war eine Lebensaufgabe, war gar Berufung.
Das sieht man auch an der Verweildauer im Amt. Emil Thut leitet die Anstalt während 32 Jahren von 1921 bis 1953; er führte den Turnunterricht und «Freigang für die besseren Elemente» im Gefängnishof am Sonntagnachmittag ein.
Unerreicht, was die Beständigkeit betrifft, bleibt der auf Strenge und Sicherheit bedachte Josef Victor Hürbin, der ab 1872 Direktor war und erst nach 43 Jahren im biblischen Alter von 84 Jahren zurücktrat.
Auch wenn er «nur» 28 Jahre lang wirkte: Unvergessen bleibt Ernst Burren. «Unter seiner Führung wurde «Lenzburg zum Markenzeichen fortschrittlichen, toleranten Anstaltswesen über die Landesgrenzen hinaus», erklärt Schulthess.
In Burrens Amtszeit fiel auch die erste Auseinandersetzung mit Drogen und «Drögelern», die rasch zum Schreckgespenst des Personals wurden: Erstes Anzeichen, dass die Drogen vor der Anstaltsmauer keinen Halt machten, war die Entdeckung eines Hanfstrauches auf dem Miststock der Innengärtnerei im Jahre 1973.
Lucas-Martin Pfrunder kann ab 1981 das Gefängnis baulich, sicherheitstechnisch und personell erweitern. Der Ausländeranteil steigt auf über 70 Prozent; die Ausbruchsversuche nehmen zu.
Seit 2005 ist mit Marcel Ruf der siebte Direktor tätig. Er perfektioniert die Sicherheit im 150 Jahre alten «Fünfstern» und baut mit der Angliederung des Zentralgefängnisses die Kapazität auf 300 Vollzugsplätze aus. Die Justizvollzugsanstalt ist entstanden.
Und wer nun genauer wissen möchte, wie sich das Wirken der sieben Direktoren auf das Leben der 41 000 Gefangenen ausgewirkt hat, die in Lenzburg ihre Freiheit für längere Zeit abgeben mussten – der findet viel eindrückliches Material im Jubiläumsbuch «Damals in Lenzburg» von Peter Schulthess.
1864
Am 22. August beziehen die ersten Sträflinge ihre Zellen.
1874
Todes- und Körperstrafen werden abgeschafft.
1879
Das Verbot der Todesstrafe wird wieder aufgehoben, Körperstrafen bleiben verboten.
1884
Die Angestellten erhalten zur Uniform neu auch eine Mütze.
1901
Ein Gefangener stirbt an Altersschwäche mit 86 Jahren.
1916
Die Strafanstalt beschafft ihre erste Schreibmaschine.
1921
Im Sommer wird einmal pro Monat geduscht, im Winter alle zwei Monate.
1928
Eine Dirne und ein Sträfling vergnügen sich während der Messe in der Küche.
1929
Zum ersten Mal ist ein Akademiker als Gefangener in Lenzburg eingetreten.
1930
Am Sonntagmorgen gibt es neu Kakao.
1932
Das Tragen von Eheringen wird erlaubt.
1944
Ein Insasse wird wegen Landesverrat erschossen.
1970
Der Circus Knie mit Clown Dimitri tritt in der Anstalt auf.
1983
Ein Gefangener versteckt seine Freundin vier Wochen lang in der Zelle.
2001
Erstmals beträgt der Ausländeranteil über 85 Prozent.
Peter M. Schulthess: Damals in «Lenzburg». Thema Verlag. Basel, 2014