Der Autor Kaspar Lüscher nähert sich den Menschen, die er porträtiert, mit der Zwiebel-Schäl-Methode. Je näher er einem Menschen kommt, desto grösser ist das Chaos, das dabei entsteht. Bei Bildhauer Erwin Rehmann war dieses besonders gross.
Kaspar beim Häuten der Zwiebel. Nein, das ist kein Revival von Tri-tra-trallala-Kasperli und, nein, das ist auch kein billiger Romanabklatsch von Günter Grass’ lesenswertem autobiografischem Werk, das vor zehn Jahren auch wegen dem Geständnis von Grass, er habe im Zweiten Weltkrieg in der Waffen-SS gedient, viel zu reden gab.
Kaspar beim Häuten der Zwiebel, das ist eine Arbeitssymbiose.
Kaspar Lüscher. Das ist der Schauspieler, Regisseur, Texter, Theaterpädagoge, kurz: ein Tausendsassa aus Gipf-Oberfrick.
Die Zwiebel-Schäl-Methode, das ist sein Zugang zu den Menschen, denen er für seine Lesungen nachspürt. Aktuell ist Lüscher auf der Wesens-Fährte von Bildhauer Erwin Rehmann; zur Finissage der Rehmann-Ausstellung in der Galerie Artune in Frick wird er ein 30-minütiges Wort-Licht auf den Laufenburger Künstler werfen.
Schon seit vielen Wochen beschäftigt sich Lüscher mit Rehmann, den er schon lange kennt, vertieft sich in Geschriebenes über den begnadeten Bildhauer, verbrachte mehrere Stunden in dessen letzten Ausstellung, sah hin, sah nochmals hin,
nahm auf, liess setzen, spann weiter. «Mir geht es weniger darum, zu erfassen, was der Künstler aussagen will, sondern darum, einzufangen, was bei mir ankommt.» Ein langes Gespräch mit Rehmann folgte und wer den 95-Jährigen kennt, weiss: Rehmann ist ein begnadeter Erzähler.
So wie bei Rehmann geht Lüscher für alle seine Künstler-Lesungen vor: Er studiert den zu Lesenden von allen Seiten, gräbt tiefer, immer tiefer, dringt Schicht um Schicht vor, um dann doch jedes Mal aufs Neue festzustellen: Ein Ende gibt es nicht, denn der Kern des Menschen bleibt, wie jener der Zwiebel, letztlich unergründlich. Mit einem grossen Unterschied: Die Zwiebel ist irgendwann weggehäutet, der Mensch nur offengelegt.
Lüscher lacht, als ich ihn frage, ob sich das denn für ihn noch rentiere, ob sich Aufwand und Ertrag da die Waagschale halten. «Es muss für mich stimmen», sagt er, deutet pantomimisch das Häuten einer Zwiebel an. Er schält so lange, bis er das Gefühl hat: Das passt, ich habe für den Moment alles, was mit vertretbarem Aufwand herauszuholen ist, herausgeschält.
Wenn er dann auf das, was er herausdestilliert hat, blickt, so sieht er oft erstmals nur eines: ein Chaos. Wieder lacht Lüscher, nimmt das Glas Wasser, das vor ihm auf dem blauen, etwas abgenutzten Metalltisch auf der gemütlichen Terrasse seines Hauses in Gipf-Oberfrick steht, nippt, fügt dann an: «Je näher ich an einen Menschen herankomme, desto grösser ist das Chaos.» Bei Erwin Rehmann war das Chaos beachtlich.
Schritt um Schritt entziffert Lüscher das Chaos, fügt, einem Puzzle gleich, das Gehörte, Gefühlte, Gelesene, Gesehene zusammen, lässt die inneren Bildstücke Sprache werden. Am Schluss steht eine Geschichte, die vom Menschen hinter der Kunst erzählt, von seinem Sein. Es geht Lüscher nicht darum, die Werke oder die Arbeit des Künstlers zu beschreiben –
«dazu sind andere berufener». Es geht ihm darum, ein Blitzlicht auf den Menschen zu werfen. Ein Text ist für Lüscher dann gelungen, «wenn er dicht ist, aus einem Guss, verständlich und humorvoll.»
Gelingt es immer? Die Frage überrascht Lüscher, er denkt nach, sagt dann: «Bislang, doch, ich denke schon.» Was der «Gelesene» zur Lesung sagt, ob er sich getroffen fühlt oder nicht, ist Lüscher wichtig. Denn wenn der Geschälte findet: Das bin ganz und gar nicht ich, «dann habe ich nicht richtig zugehört, nicht richtig hingesehen». Das sei bisher noch nie passiert, sagt Lüscher.
Etwas allerdings erlebt er immer mal wieder: Dass er den Porträtierten ein Spiegelbild ihres Seins vor Augen hält, das diese so noch gar nie bedacht oder reflektiert haben. Aus den bewegenden Worten entstehen dann oft wortreiche Bewegungen und Begegnungen. Die rehmannsche Zwiebel hat Lüscher inzwischen so weit geschält, dass er genügend Schichten zum Arbeiten hat. Er fügt sie nun zu einem Text zusammen, zu einem Bild, zu einem Ganzen. Natürlich fehlt auch die Würze nicht, das ist in diesem Fall: eine gesalzene Prise Humor. Wohin hat Lüscher das Schälen geführt? Das will er noch nicht verraten. Wenn man Lüscher jedoch über Rehmann sprechen hört, dann ist schnell klar: Es wird ein liebevoller Blick auf Rehmann sein. Denn genau so, als «bescheiden, liebevoll und unvoreingenommen», beschreibt Lüscher den Laufenburger Bildhauer. «Davon sprechen auch seine Werke.»
Lüscher empfindet eine Nähe zu Rehmann, eine innere Verbundenheit mit ihm, wie er sagt. Die beiden verbindet mehr als das reine Künstler-Dasein. Beide sind bei allen Erfolgen bescheiden geblieben; beide haben einen grossen und oft auch spitzen Humor; beide fordern mit ihren Werken den Zuhörer und Zuseher heraus; beide können sich, im Positiven, in ihrer Arbeit verlieren; beide stossen
für jedes Oeuvre in die Tiefe vor. Oder eben: Sie häuten die Zwiebel.
Die Lesung zur Finissage der Erwin-Rehmann-Ausstellung findet am 29. Juni um 19.30 Uhr in der Galerie Artune in Frick statt.