Senioren am Steuer
Weshalb sich ältere Menschen so an den Führerausweis klammern

Der 75-jährige Dieter Deiss fährt noch Auto, die 79-jährige Marlène Rohrer hat den Ausweis freiwillig abgegeben. Bei einer Ausfahrt zu dritt diskutieren sie über die Fahrtauglichkeit von Senioren und die Bedeutung des Führerausweises.

Thomas Wehrli
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Marlène Rohrer fühlt sich wohl mit Dieter Deiss am Steuer.

Marlène Rohrer fühlt sich wohl mit Dieter Deiss am Steuer.

Thomas Wehrli

Irrfahrten. Kollisionsfahrten. Todesfahrten. Regelmässig sorgen Verkehrsunfälle, bei denen Senioren am Steuer sitzen, für Schlagzeilen. «91-Jähriger fährt Kegelfreund tot»; «73-Jährige rast in Baustelle»; «79-Jährige verwechselt Brems- mit Gaspedal»; «Senior fährt Ehepaar auf Fussgängerstreifen an».

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...Senioren über 70 mussten 2013 im Kanton Aargau den Führerausweis abgeben. 663 von ihnen aus gesundheitlichen Gründen. Insgesamt zog das kantonale Strassenverkehrsamt im letzten Jahr 1129 Fahrerlaubnisse ein.

Der Fahrer: Dieter Deiss, 75, aus Sulz, seit 1960 am Steuer, unfallfrei, legte früher 30 000 bis 50 000 Kilometer pro Jahr zurück. Heute sind es noch rund 10 000, vorab Kurzstrecken.

Die Beifahrerin: Marlène Rohrer, 79, aus Eiken, hat den Führerausweis 1954 gemacht. Kilometerleistung: früher «zu wenig», heute 0. Rohrer hat das Billett anfangs 2014 freiwillig abgegeben.

«Das ist der Moment»

Deiss setzt die Brille auf, wendet seinen Toyota Yaris Verso, silbern, Jahrgang 2006, gut 70 000 Kilometer auf dem Tacho, «ein Mittel zum Zweck», fährt in Richtung Stein los. Sie habe immer gesagt: «Mit 80 fahre ich nicht mehr», erzählt Rohrer.

Als sie dann Ende 2013 vom Strassenverkehrsamt die Unterlagen für den Fahrtauglichkeits-Check erhielt, den jeder Automobilist über 70 alle zwei Jahre beim Hausarzt machen muss, habe sie sich gesagt: «Das ist der Moment.»

Verstanden haben es nicht alle, «warum machst du das?», fragten viele, «weil ich nicht mehr fahren will», antwortete sie allen. Den Schritt habe sie «keinen Tag» bereut, meint die vife und fidele Rentnerin, eine Last sei von ihr abgefallen, damals, an dem Tag, als sie den Ausweis abgab.

Der Druck, fahren zu müssen, um die Routine nicht ganz zu verlieren, sass ihr nicht mehr im Nacken, war wie weggeblasen. Und wenn sie, Gott bewahre, ihren Mann einmal ins Spital bringen müsste? «Dann wäre ich ohnehin zu nervös, um selber zu fahren.»

Rohrer, die seit je lieber auf dem Beifahrer- als auf dem Fahrersitz Platz nahm, blickt aus dem Fenster, Höhe Münchwilen, Blick auf das dunstige Sisslerfeld. Deiss, der Fahrer in der Familie («meine Frau fährt nicht gerne»), nickt anerkennend. «Ein vernünftiger Entscheid», meint er, schaltet einen Gang zurück, weil vor ihm ein Auto stark abbremst, bevor es in Richtung MBF einspurt und abbiegt.

«Ich hoffe, ich habe auch einmal die Grösse, zu sagen: So, jetzt fühle ich mich nicht mehr sicher, jetzt ist Schluss, jetzt gebe ich den Fahrausweis ab.»

Die Krux mit der Zeit

Wird er sie haben? Deiss blickt in den Rückspiegel, sieht dem Journalisten auf dem Rücksitz via Spiegel in die Augen, zuckt dann die Schulter. «Ich hoffe es. Garantieren kann ich es aber nicht.» Denn Mobilität ist Freiheit, ist Unabhängigkeit, und die gibt niemand gerne preis.

«Viele ältere Leute überschätzen auch ihre Fähigkeiten», weiss Deiss. Vielleicht gehöre er auch dazu, fügt er an, fügt es so an, dass sich die Frage aufdrängt: «Fährt unser Chauffeur sicher, Frau Rohrer?» – «Aber sicher», kommt die Antwort postwendend, «ich fühle mich sehr wohl – bis jetzt.» Rohrer lacht, Deiss auch, und am Ende der Fahrt wird Rohrer sagen: «Es ist dabei geblieben. Es war eine schöne und angenehme Ausfahrt.»

Stein, Kreuzung Schaffhauserstrasse. Deiss blickt nach links, wartet ein herannahendes Fahrzeug ab, fährt Richtung Laufenburg los, beschleunigt. «Weshalb sich der Mensch so an den Führerausweis klammert», wiederholt er die Frage, schaltet in Gang drei, in Gang vier. «Weil es ein Stück Freiheit ist.» Die Angst davor, diese zu verlieren, die Furcht, abhängig zu werden, lässt viele klammern. An den Ausweis, die eigenen Fähigkeiten, den Zeitfaktor.

«Heute muss alles schnell gehen», sagt Rohrer. Dabei hätten doch gerade Rentner mehr Zeit, müsste man meinen. Beide, das Ehepaar Rohrer wie Deiss, nehmen für längere Strecken schon lange den öV. «Wir sind oft im Tessin», erzählt Deiss. Da brauche man mit dem Zug vielleicht eineinhalb Stunden mehr, «was ist das schon».

Reaktionsvermögen lässt nach

Früher legte Deiss beruflich viele Kilometer zurück. Heute sind die Strecken deutlich kürzer. Zum Posten, zum Arzt, ins Thermalbad. Die Routine sei nicht mehr die gleiche wie früher, ist sich Deiss bewusst. Das Reaktionsvermögen ebenfalls nicht.

Just dieses Wissen um die eigene Begrenztheit aber, dieses Spüren der Grenzen fehlt nicht wenigen Senioren. «Es ist wichtig, dass man sich selber eingesteht: Ich bin nicht mehr 50 und seinen Fahrstil dem Alter anpasst.» Es gäbe ihm heute nichts zu tun, bei Regen und Nacht auch einmal mit 90 auf der Autobahn hinter einem Lastwagen herzufahren.

Laufenburg, Höhe Rhypark. Die Siedlung mit 92 Wohnungen ist noch im Bau. Ende November ziehen die ersten Bewohner ein. Unter ihnen Dieter und Greta Deiss. Er schmunzelt. «Ich schaue jedes Mal hin, um zu sehen, wie weit die Arbeiten sind.»

Deiss stellt den Blinker, biegt Richtung Kaisten ab. Alle zwei Jahre muss auch er die Abzweigung zum Hausarzt nehmen und seine Fahrtauglichkeit abchecken lassen. Reicht das? Und: Ist der Hausarzt dafür der richtige? Deiss hat seine Zweifel. «Es wäre sinnvoll, wenn man zusätzlich mit einem Experten eine Fahrstunde absolvieren müsste. Er könnte die Fahrtauglichkeit besser beurteilen als der Arzt alleine.» Rohrer lacht. «Ui», sagt sie augenzwinkernd, «dann hätte ich den Ausweis wohl schon früher abgegeben.»

Kaistenberg, Baustelle am Hang, warten auf grün. Doch, meint Deiss, kuppelt ein, fährt perfekt am Berg an, doch, er könne sich auch Massnahmen wie spezielle Rayons, in denen man noch fahren darf, oder selektive Verbote wie ein Nachtfahrverbot vorstellen. Nur: «Wer soll das kontrollieren?» Schulterzucken.

Mann schweigt, sinniert, Frau ebenso. Ein Deutscher, ein ganz flotter, schiesst von hinten mit seinem Boliden, einem feissen BMW, am Toyota vorbei. Direkt vor einer Kurve. Wäre ein Fahrzeug entgegengekommen, er hätte keine Chance gehabt. Ein Leben für ein paar Sekunden.

Bei Fricks Monti biegt Deiss in die Hauptstrasse ein, fährt auf den «Blink ich oder blink ich nicht»-Kreisel beim Coop zu, fährt ein, blinkt kurz, verlässt das Rondell in Richtung Eiken.

Eine letzte Frage: Was geben Sie, Frau Rohrer, älteren Menschen mit auf die Fahrt, damit sie den Zeitpunkt, den Ausweis abzugeben, nicht verpassen? «Sich immer wieder zu hinterfragen: Fahre ich noch sicher?» Wenn ja, dann freie Fahrt; wenn nein, «dann ist es Zeit».