Sozialhilfe
Wenn die Armutsfalle zuschnappt – das Schicksal einer Fricktaler Familie

Ilir und Fatime wünschen sich eines: Nachhilfe für ihre Kinder, damit sie den besseren Start ins Leben haben.

Thomas Wehrli
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Dies ist die Geschichte einer Familie aus dem oberen Fricktal, die wenig hat. Die Eltern möchten eigentlich nur eines: Feste Jobs, damit sie ihren Lebensunterhalt wieder selber bestreiten können. (Symbolbild)

Dies ist die Geschichte einer Familie aus dem oberen Fricktal, die wenig hat. Die Eltern möchten eigentlich nur eines: Feste Jobs, damit sie ihren Lebensunterhalt wieder selber bestreiten können. (Symbolbild)

Keystone

Dies ist die Geschichte von Ilir*, Fatime* und ihren drei Kindern, einer Familie aus dem oberen Fricktal, die wenig hat und eigentlich nur eines möchte: Feste Jobs, damit sie ihren Lebensunterhalt wieder selber bestreiten können und nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig sind, damit sie nicht mehr jeden Franken zweimal umdrehen müssen, damit sie ihren Kindern, viereinhalb bis zehn Jahre alt, nicht dauernd sagen müssen: Nein, das können wir uns nicht leisten.

Es sei hart, den Kindern nicht das geben zu können, was man möchte, nicht das, was «normal» ist. Wobei die Gesellschaft diese Norm mitbestimmt, oder vielmehr: vorgibt. Wenn die Kinder heimkommen, sagen: Der Fritz und der Paul und eigentlich alle hätten dieses bestimmte Teil, warum sie nicht, dann schaut sie die Mutter an, lächelt, obwohl es ihr in solchen Momenten zum Weinen zumute ist, sagt: «Eines Tages kaufen wird das auch», sagt: «Schon bald unternehmen wir das ebenfalls.»

Morgen. Bald. Irgendwann. Diese Geschichten wiederholen sich täglich, irgendwo im Fricktal, vielleicht auch gerade nebenan. Oft steht zu Beginn dieser Negativspirale, die über kurz oder lang fast immer aufs Sozialamt führt und leider allzu oft nicht mehr davon weg, dieser eine Moment im Leben, diese Weiche an der Schwelle zum Erwachsenwerden: die Lehre. Oder besser: die Nicht-Lehre. Eine schlechte Ausbildung ist heute eine der grössten Armutsfallen. Einfache Jobs werden gestrichen, werden automatisiert, wegrationalisiert.

Putzen am Wochenende

So ging es auch Ilir, 35. Er arbeitete als Lagerist, «das gefiel mir sehr», sagt er, doch der Firma gefiel es besser, diese Arbeit an Roboter auszulagern. 150 Mitarbeiter verloren die Stelle, weitere, so sagt Ilir, werden folgen. Seither ist er auf der Suche nach einer Arbeit, als Lagerist, als Arbeiter, eigentlich egal was, «Hauptsache ist, ich kann wieder arbeiten.» Aktuell kann er temporär arbeiten, auf Abruf, doch Ende Jahr ist damit Schluss.

Auch Fatime hat keine abgeschlossene Ausbildung. Im Kosovo machte sie das Gymnasium, das nützt ihr heute wenig. Am Wochenende geht sie im Kantonsspital putzen. Ihr grösster Wunsch wäre es, eine Lehre zu absolvieren, aber wer nimmt schon eine 33-Jährige.
Fatime verdient rund 2000 Franken im Monat, Kinderzulagen inklusive. Der Lohn geht direkt ans Sozialamt, das ihr Einkommen mit dem Anspruch auf Sozialhilfegeld verrechnet. 3200 Franken hat die Familie pro Monat zugute, das muss reichen für Lebensunterhalt, Krankenkasse und Unvorhergesehenes. Die Miete zahlt der Sozialdienst.

Aufgabenhilfe für die Kinder

«Mit drei Kindern sind 3200 Franken pro Monat knapp», sagt Fatime. Oft habe der Monat mehr Tage als Geld. Sie kauft konsequent Aktionen ein, geht ab und an nach Deutschland, weil es dort halt günstiger ist. Die Kleider kauft sie im Billigdiscounter ein, wenn diese ihre Kleider-Wochenaktionen haben.

Für grosse Sprünge reicht das Geld nicht, auch kleinere müssen wohlüberlegt sein. Die Eltern würden den beiden schulpflichtigen Töchtern, 8 und 10, gerne ermöglichen, dass sie in die Hausaufgabenhilfe gehen können, damit sie dereinst einen besseren Start ins Leben haben, als sie es hatten. Vor allem im Deutsch hapert es bei den Eltern noch immer, auch wenn sie schon viele Jahren in der Schweiz leben. Ilir kam 1999 während des Kosovokriegs als Familiennachzug in die Schweiz; sein Vater lebt schon lange hier. Fünf Jahre später lernt Ilir, der den «Ausweis C» hat, also eine Niederlassungsbewilligung in der Schweiz, in den Ferien im Kosovo Fatime kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Der Blick ins Portemonnaie dagegen ist oft ein Blick ins Leere. «Die Aufgabenhilfe liegt schlicht nicht drin», sagt Fatime, blickt im spartanisch möblierten Wohnzimmer zu ihrem Mann, der in sich versunken im Sessel sitzt. 12 Franken kostet eine Stunde, macht 24 für beide Töchter, macht bei zwei Stunden pro Woche knapp 50 Franken. «Das können wir nirgends einsparen.»

Die Hoffnung

Wünsche hätten die Kinder viele, vor allem der Kleine, viereinhalb, der noch nicht versteht, weshalb andere Kinder alles bekommen, sofort, und er nicht. Fussball würde er gerne spielen. Und, ja, auch die Mädchen haben den einen oder anderen Wunsch. Für das Zimmer, für den Sport. Doch sie sind genug alt, um zu verstehen, dass die Eltern zwar gerne mehr geben würden, aber nicht können. Sie fragen deshalb oft gar nicht erst.

Ilir hat einen grossen Wunsch, oder vielmehr: eine grosse Hoffnung. «Dass das 2017 besser wird.» Was braucht es dazu? «Eine Stelle. Sobald ich eine habe, wird alles gut.»