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Soziologe Ueli Mäder über Konflikte zwischen Zuzügern und Alteingesessenen, Toleranz und was er Paaren rät.
Ueli Mäder: Ja. Es sind oft Alteingesessene, die sich am Verhalten der Zuzüger stossen und dieses auch kontrollieren. Parkieren sie das Auto richtig? Steht da nicht ein Kindervelo im Weg?
Man darf das nicht generalisieren. Längst nicht alle Alteingesessenen verhalten sich so. Aber sicher: Es gibt eine Art Besitzstandswahrung. Man will das, was man sich gewohnt ist, nicht hergeben. Etwas, das sich verändert, wirkt auf die einen belebend, auf andere aber eben bedrohend. Das macht es für Zuzüger oft auch extrem schwierig: Egal, wie sie sich verhalten, es erregt immer irgendwie Anstoss. Ziehen sie sich zurück, heisst es: Die kümmern sich um nichts. Sind sie aktiv, heisst es: Die mischen sich überall ein.
Das kann man nicht an der Grösse festmachen. Ein kleines Dorf, in dem die Gesprächs- und Diskussionskultur ausgeprägt ist, in dem man sich im Dorfladen noch persönlich kennt, kann offener sein als eine grosse Gemeinde.
So emotional verlaufen die Diskussionen aus meiner Sicht gar nicht. Wir empfinden es vielleicht so, weil wir eine recht dialogische Konfliktkultur haben. Richtig ist: Es gibt bei uns aber ein grosses Mass an sozialer Kontrolle. Wer diese Kontrolle übermässig ausüben will, ist mit sich selber meist unzufrieden. Wer zufrieden ist, nimmt auch weniger Anstoss, wenn andere etwas anders machen.
Durchaus. Toleranz heiss doch auch: Ich will etwas verstehen, das anders gestrickt ist als mein Weltbild. Ich akzeptiere, dass andere die gleichen Dinge anders sehen.
Ich nehme das sehr ambivalent wahr. In einzelnen Bereichen sind wir klar toleranter geworden, beispielsweise beim Umgang mit anderen Kulturen. In anderen Bereichen hat sich die Toleranz dagegen deutlich verengt. Gerade in verkehrsbelasteten Gebieten, wo die Lärmbelastung permanent hoch ist, mag es weniger leiden. Da reicht dann oft ein zusätzliches Geräusch, etwa ein krähender Hahn, damit der Konflikt eskaliert.
Einer ist sicher der Generationenaspekt. Ganz stark spielt auch die eigene Zufriedenheit eine Rolle. Auch das Migrationsmoment spielt mit: Je weniger Verbindung ein Zuzüger ins Dorf hat, desto grösser ist tendenziell das Konfliktpotenzial.
Das ist gut möglich. Wenn die Erwartungshaltung überrissen ist, kommt es schnell zu einem Konflikt. Am meisten Gewalt in der Familie gibt es jeweils am Freitagabend. Weshalb? Weil viele Menschen erwarten: Jetzt haben wir die Woche hinter uns, haben das Wochenende vor uns, das muss einfach toll werden. Wird diese Erwartungshaltung nicht erfüllt, geht die Post ab. Problematisch wird es vor allem dann, wenn man sich die Zeit nicht gibt, um anzukommen – im Wochenende wie im Dorf.
Mag sein. Auf der anderen Seite haben viele eben gerade das Gefühl: Ich muss nur den Schalter umlegen – und schwups, tauche ich in die Freizeitwelt ein. So einfach ist es nicht. Man muss sich Zeit für das Ankommen nehmen.
Man muss heute egozentrischer unterwegs sein. Man sagt zwar: Sei brav und angepasst. Doch das Leben straft einen dafür ab. Wer immer anderen den Vortritt lässt, hat schnell eine Zwei auf dem Rücken. Auf der anderen Seite leben wir immer noch ein hohes Mass an Solidarität. Es gibt sehr viele Leute, die sich äusserst sozial verhalten. Zum Glück, denn sonst würde die Gesellschaft nicht funktionieren. Ohne soziale Einbindung wären wir nicht lebensfähig – als Individuen wie als Gesellschaft.
In gewissen Bereichen, klar. Die Soziologen warnten schon vor über 100 Jahren, dass die Gesellschaft auseinanderdrifte, wenn die Arbeitsteilung weiter zunehme. Sicher, das ist so, doch es entstanden auch neue Formen des sozialen Zusammenhalts.
Doch. Wenn die soziale Ungleichheit weiter in dem Mass wie bisher zunimmt, ist der gesellschaftliche Zusammenhalt in ernster Gefahr. Dann ist auch der Arbeitsfrieden nicht mehr garantiert.
Es ist immer eine Frage des Blickwinkels. Früher gab es in vielen kleineren Gemeinden eine Art Zwangsgeborgenheit, eine Kuhstallwärme der Gemeinschaft. Das gab zwar Zusammenhalt, das bedeutete aber gleichzeitig soziale Enge. Dass man aus dieser Enge ausgebrochen ist und mehr Freiheiten in der Anonymität der Städte gesucht hat, ist für mich gut nachvollziehbar. Gleichzeitig merken heute gerade junge Menschen, dass es in dieser Coolness, die sie anstrebten, arg kühl geworden ist und setzen zur Gegenbewegung an. Es gibt wieder ein Bedürfnis, verbindlichere soziale Strukturen zu haben – aber nicht wie früher aus der Not oder aus einer Angst heraus, sondern weil man es aus freien Stücken will.
Es braucht vor allem eine Auseinandersetzung miteinander. Alle Involvierten müssen zuerst zu Wort kommen, ohne dass sie gleich korrigiert werden. Erst dann gilt es, eine Lösung zu suchen. Diese Art des Zuhörens empfiehlt sich auch in der Partnerschaft: Es können viele Probleme und Missverständnisse vermieden werden, wenn ein Paar einmal pro Woche zusammensitzt und jeder einfach erzählt, was ihn bewegt, wie es ihm geht, was ihn stört, ohne zu diskutieren. Ein solcher verstehender Zugang hilft, mögliche Konfliktzonen zu erkennen und ihnen zu begegnen.