Interview
Soziologe zum Glocken-Streit: «Es gibt bei uns grosse soziale Kontrolle»

Soziologe Ueli Mäder über Konflikte zwischen Zuzügern und Alteingesessenen, Toleranz und was er Paaren rät.

Thomas Wehrli
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In Gebieten, wo die Lärmbelastung permanent hoch ist, mag es wenig leiden – und es kommt zum Konflikt. Archiv

In Gebieten, wo die Lärmbelastung permanent hoch ist, mag es wenig leiden – und es kommt zum Konflikt. Archiv

Walter Schwager

Herr Mäder, der Tenor in den Online-Kommentaren zum Kirchenglocken-Streit in Gipf-Oberfrick war: Die Klägerin ist erst vor wenigen Jahren zugezogen; wenn ihr das Morgengeläut nicht passt, soll sie wieder wegziehen. Ein typischer Konflikt?

Ueli Mäder: Ja. Es sind oft Alteingesessene, die sich am Verhalten der Zuzüger stossen und dieses auch kontrollieren. Parkieren sie das Auto richtig? Steht da nicht ein Kindervelo im Weg?

Ueli Mäder ist Professor für Soziologie an der Universität Basel.

Ueli Mäder ist Professor für Soziologie an der Universität Basel.

Nicole Nars-Zimmer niz

Weshalb ist das so? Haben Alteingesessene Angst, dass man ihnen etwas wegnimmt?

Man darf das nicht generalisieren. Längst nicht alle Alteingesessenen verhalten sich so. Aber sicher: Es gibt eine Art Besitzstandswahrung. Man will das, was man sich gewohnt ist, nicht hergeben. Etwas, das sich verändert, wirkt auf die einen belebend, auf andere aber eben bedrohend. Das macht es für Zuzüger oft auch extrem schwierig: Egal, wie sie sich verhalten, es erregt immer irgendwie Anstoss. Ziehen sie sich zurück, heisst es: Die kümmern sich um nichts. Sind sie aktiv, heisst es: Die mischen sich überall ein.

Wo ist dieses Konfliktpotenzial grösser? In kleinen oder grösseren Gemeinden?

Das kann man nicht an der Grösse festmachen. Ein kleines Dorf, in dem die Gesprächs- und Diskussionskultur ausgeprägt ist, in dem man sich im Dorfladen noch persönlich kennt, kann offener sein als eine grosse Gemeinde.

Konflikte im Dorf werden oft sehr emotional ausgetragen. Weshalb?

So emotional verlaufen die Diskussionen aus meiner Sicht gar nicht. Wir empfinden es vielleicht so, weil wir eine recht dialogische Konfliktkultur haben. Richtig ist: Es gibt bei uns aber ein grosses Mass an sozialer Kontrolle. Wer diese Kontrolle übermässig ausüben will, ist mit sich selber meist unzufrieden. Wer zufrieden ist, nimmt auch weniger Anstoss, wenn andere etwas anders machen.

Also auch eine Frage der Toleranz?

Durchaus. Toleranz heiss doch auch: Ich will etwas verstehen, das anders gestrickt ist als mein Weltbild. Ich akzeptiere, dass andere die gleichen Dinge anders sehen.

Ist die Toleranzschwelle in den letzten Jahren gesunken?

Ich nehme das sehr ambivalent wahr. In einzelnen Bereichen sind wir klar toleranter geworden, beispielsweise beim Umgang mit anderen Kulturen. In anderen Bereichen hat sich die Toleranz dagegen deutlich verengt. Gerade in verkehrsbelasteten Gebieten, wo die Lärmbelastung permanent hoch ist, mag es weniger leiden. Da reicht dann oft ein zusätzliches Geräusch, etwa ein krähender Hahn, damit der Konflikt eskaliert.

Welches sind häufige Konfliktpunkte?

Einer ist sicher der Generationenaspekt. Ganz stark spielt auch die eigene Zufriedenheit eine Rolle. Auch das Migrationsmoment spielt mit: Je weniger Verbindung ein Zuzüger ins Dorf hat, desto grösser ist tendenziell das Konfliktpotenzial.

Hängt es nicht auch davon ab, woher die Zuzüger kommen? Ich habe den Eindruck: Besonders gross ist das Konfliktpotenzial, wenn jemand aus der Stadt aufs Land zieht. Denn er erwartet eine heile, ruhige Welt, die es so nicht gibt.

Das ist gut möglich. Wenn die Erwartungshaltung überrissen ist, kommt es schnell zu einem Konflikt. Am meisten Gewalt in der Familie gibt es jeweils am Freitagabend. Weshalb? Weil viele Menschen erwarten: Jetzt haben wir die Woche hinter uns, haben das Wochenende vor uns, das muss einfach toll werden. Wird diese Erwartungshaltung nicht erfüllt, geht die Post ab. Problematisch wird es vor allem dann, wenn man sich die Zeit nicht gibt, um anzukommen – im Wochenende wie im Dorf.

Wir leben heute in einer beschleunigten Gesellschaft. Fällt es da nicht einfach schwer, den Schalter am Wochenende umzulegen?

Mag sein. Auf der anderen Seite haben viele eben gerade das Gefühl: Ich muss nur den Schalter umlegen – und schwups, tauche ich in die Freizeitwelt ein. So einfach ist es nicht. Man muss sich Zeit für das Ankommen nehmen.

Wir sind heute Ich-bezogener unterwegs. Hat dies auch einen Einfluss?

Man muss heute egozentrischer unterwegs sein. Man sagt zwar: Sei brav und angepasst. Doch das Leben straft einen dafür ab. Wer immer anderen den Vortritt lässt, hat schnell eine Zwei auf dem Rücken. Auf der anderen Seite leben wir immer noch ein hohes Mass an Solidarität. Es gibt sehr viele Leute, die sich äusserst sozial verhalten. Zum Glück, denn sonst würde die Gesellschaft nicht funktionieren. Ohne soziale Einbindung wären wir nicht lebensfähig – als Individuen wie als Gesellschaft.

Driften die beiden Verhaltensmuster, das Egozentrische und das Soziale, auseinander?

In gewissen Bereichen, klar. Die Soziologen warnten schon vor über 100 Jahren, dass die Gesellschaft auseinanderdrifte, wenn die Arbeitsteilung weiter zunehme. Sicher, das ist so, doch es entstanden auch neue Formen des sozialen Zusammenhalts.

Ist das Auseinanderdriften aber nicht auch eine Gefahr für eine Gesellschaft?

Doch. Wenn die soziale Ungleichheit weiter in dem Mass wie bisher zunimmt, ist der gesellschaftliche Zusammenhalt in ernster Gefahr. Dann ist auch der Arbeitsfrieden nicht mehr garantiert.

Die Solidarität war früher eine Notwendigkeit, um als Gesellschaft zu (über)leben. Heute brauche ich die Gesellschaft nicht mehr im gleichen Mass. Ist diese Entwicklung gut?

Es ist immer eine Frage des Blickwinkels. Früher gab es in vielen kleineren Gemeinden eine Art Zwangsgeborgenheit, eine Kuhstallwärme der Gemeinschaft. Das gab zwar Zusammenhalt, das bedeutete aber gleichzeitig soziale Enge. Dass man aus dieser Enge ausgebrochen ist und mehr Freiheiten in der Anonymität der Städte gesucht hat, ist für mich gut nachvollziehbar. Gleichzeitig merken heute gerade junge Menschen, dass es in dieser Coolness, die sie anstrebten, arg kühl geworden ist und setzen zur Gegenbewegung an. Es gibt wieder ein Bedürfnis, verbindlichere soziale Strukturen zu haben – aber nicht wie früher aus der Not oder aus einer Angst heraus, sondern weil man es aus freien Stücken will.

Wenn es zu Konflikten kommt: Wie kann man sie lösen?

Es braucht vor allem eine Auseinandersetzung miteinander. Alle Involvierten müssen zuerst zu Wort kommen, ohne dass sie gleich korrigiert werden. Erst dann gilt es, eine Lösung zu suchen. Diese Art des Zuhörens empfiehlt sich auch in der Partnerschaft: Es können viele Probleme und Missverständnisse vermieden werden, wenn ein Paar einmal pro Woche zusammensitzt und jeder einfach erzählt, was ihn bewegt, wie es ihm geht, was ihn stört, ohne zu diskutieren. Ein solcher verstehender Zugang hilft, mögliche Konfliktzonen zu erkennen und ihnen zu begegnen.