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Gansingen, 1000-Einwohner-Gemeinde im Fricktal, war am Montag Etappenort der Landesrundfahrt. Das Protokoll eines Efforts, wie ihn nur ein gesundes Dorf leisten kann.
«Astrid, dä Heli!» Gäbe es keinen Lärm aus der Luft, würde man nicht begreifen, dass jede Sekunde das Feld über den Zielstrich gebraust kommt. Hier, 100 Meter hinter dem Bogen mit kursivem Tour-de-Suisse-Schweizerkreuz, dem Vaudoise-Logo und der Aufschrift «GANSINGEN», hört man den Speaker nicht mehr, sieht man nur knapp um die leichte Kurve, die die Strecke auf den letzten Metern nimmt, obwohl sie Zielgerade heisst.
Astrid, Jeannette, Silvia, Renate und Monika stellen ihre Plastikbecherli beiseite: Gansinger Federweisser 2017. Gegen die Tropfen von oben haben sie sich an diesem Montagnachmittag unter dem Vordach von Jeannettes Elternhaus mit dem Tropfen vom eigenen Rebberg, Aperol-Spritz und Poncha da Madeira verteidigt. Im Trockenen, aber nicht auf dem Trockenen sitzen. Die Frauen können ein Symbol sein für ganz Gansingen: Sie haben nichts dem Zufall überlassen.
Donnerstagabend vor dem grossen Tag, letzte OK-Sitzung. Das Lauteste, was man neben dem bereits aufgemalten weissen Zielstrich hört, ist das Muhen von Kühen. In der Festhalle sitzen ein Dutzend Mitglieder des VMC Gansingen an längs aufgereihten Festtischen. OK-Sekretärin Iris hat Glacé für alle mitgebracht. Spontanapplaus. Ein Teil davon, sagt Iris nachher, sei wohl auch dafür gewesen, dass sie am Montag noch bis in alle Nacht hinein Schilder laminiert habe.
«Das einzige, das wir nicht beeinflussen können», sagt OK-Präsident Emanuel Hüsler, «ist das Wetter». Vielleicht ahnt er bereits, dass er damit recht behalten sollte – und schiebt hintennach: «Davon lassen wir uns aber nicht zu fest stressen». Die Vorfreude sei riesig, die Stimmung im Dorf gut. Nur zu Hause sei er momentan nicht so viel: «Physisch sowieso nicht. Und meine Frau hat mir schon gesagt, ich dürfe dann auch den Kopf wieder mal mit nach Hause bringen.»
Emanuel Hüsler ist der Hauptverantwortliche, oder, wie er selber mit seinem spitzbübischen Lachen sagt, der «Hauptschuldige» dafür, dass der viertgrösste Radsportanlass der Welt nach 2012 ein zweites Mal in Gansingen Halt macht. Er habe das schon lange im Kopf gehabt, die Tour zum 100-Jahr-Jubiläum des Vereins noch einmal ins Fricktal zu holen. Er meldete das Interesse bei den Tour-Organisatoren schon an, als im Dorf noch alle der Meinung waren, so etwas tue man sich sicher nie mehr an.
Aber schliesslich ist Tourdirektor Olivier Senn ja ein Gansinger und Ehrenmitglied des VMC. Und schliesslich vergingen mit den Monaten die Erinnerungen an die strengen Momente – zurück blieben nur die schönen. Dennoch musste Hüsler viel Überzeugungsarbeit leisten. Im Verein, im Gemeinderat, im Dorf. «Manchmal war ich etwas zu euphorisch. Vielleicht bin ich drum heute OK-Präsi.»
Dölf Erdin, Ressort Bau, orange Arbeitsshorts mit Leuchtstreifen, ärmelloses Shirt, ist einer der vielen, die schon 2012 mithalfen. Man habe viel von vor sechs Jahren kopieren können. Aber das sei auch gefährlich: «Man muss aufpassen, dass man das Zeug trotzdem genau anschaut.» Es brauche immer einen, der anreisse, und es brauche Leute, die nachzögen, sagt Dölf. Ein bisschen, wie wenn eine Fluchtgruppe den Berg hinauffährt? «Ja», findet Emanuel Hüsler, «gar kein schlechter Vergleich. Nur, dass bei uns niemand abgehängt werden darf.»
Gemeindeammann Mario Hüsler, der Bruder des OK-Präsidenten, lehnt über den Stapel frisch gedruckter Festzeitungen. «Wir haben etwas vergessen», blickt er halb schuldbewusst, halb schulterzuckend in die Runde: «Das OK.» Ein treffenderes Sinnbild kann es nicht geben für ein Dorf, das seit 2011 jedes Jahr einen Grossanlass gestemmt hat; Freilichttheater, Tour de Suisse, Bergturnfest, 750-Jahr-Feier, Kantonalmusiktag.
Wenn man ausserhalb von Gansingen fragte, wer was organisiert hatte, hiess es nie die Turner, die Gümmeler, die Musig. Es hiess immer: die Gansinger. «Wir haben kein Tourismusbüro, kein grosses Werbebudget», sagt Ammann Hüsler: «Unsere Vereine sind unser Standortmarketing.»
Am Montagvormittag steht Dario Stäuble, Ressort Unterhaltung, weisses OK-Poloshirt, Laufschuhe und Velosocken, vor den versammelten Primarklassen. Er erklärt den Kindern, dass die Fahrer bis Kilometer 50 mit zwei Bidons auskommen müssen und dass das Postauto heute das einzige Fahrzeug sei, dass abgesehen von den Tour-Wagen das ganze Dorf durchfahren dürfe. Er führt die Kinder ins Zielgelände, in die Festwirtschaft, ins Sponsoren-Village.
OK-Mitglieder erklären, an was sie in ihren Ressorts denken mussten. Die Absperr-Equipe ist gerade dabei, die Zielgerade mit «Vaudoise»-Werbebanden abzudecken. Chef Stefan Fritz, Typ gemütlicher Berner, schaut auf die Kinder: «Potzheimatland, dir heit aber Nachwuchs! Ouso, losid guet, so wüssid dir i zwänzg Jahr de ou wies geit, hä!»
Nach dem Mittag, das Feld rollt auf das Fricktal zu, findet Petrus tatsächlich, alle hätten eine Abkühlung nötig. Schirme, Kapuzen und Dächlikappen werden im Ziel montiert. Im Trockenen stehen die lokalen Sponsoren beim Apéro. Landammann Alex Hürzeler sagt, ihm sei es nicht so wohl hier drin: «Wir müssen nachher auch raus in den Regen. Velorennen finden draussen statt.» Der Aargau sei nach wie vor der «Radsportkanton schlechthin», und er sei stolz, dass man immer wieder Etappenort sein könne, dass es immer wieder Vereine gebe, die «das alles auf sich nehmen.»
Der Heli kommt näher. Das Radlerbrot, das der Landhus-Beck kreiert und zugunsten der Jugend im Tal verkauft hat; der Aufruf, alte Velos aus dem Keller zu holen und damit die Strassenränder zu dekorieren; das Herumtelefonieren, bis die Hunderten an Helferschichten besetzt waren; das 16-seitige Verkehrs- und Sicherheitskonzept mit 19 Beilagen: Alles war für diesen einen Moment. Und als die Primarschule auf der Grossleinwand in der Helikopteraufnahme zu sehen ist, wie sie in der extra früh gemähten Wiese neben dem Zielstrich eine Gans auf einem Einrad formiert, weiss man in Gansingen: es hat sich gelohnt.
Das Feld sprintet durch den roten Bogen, wer gewonnen hat, weiss hier, 100 Meter hinter dem Ziel, niemand. Aber das ist auch gar nicht wichtig. Astrid, Jeannette, Silvia, Renate und Monika klatschten den Fahrern zu. Die Männer kommen mit einem Tablet aus dem Haus, der Livestream des Schweizer Fernsehens sei «e e chley hindedri», sie stehen um den kleinen Bildschirm und sehen, wie der Fahrer mit der Nummer 64 als Erster die Hand zum Jubeln hebt. «So, hätts dä Italiäner also gmacht.»
In aller Ruhe nimmt Astrid die Flasche mit dem Federweissen und sagt zu Jeannette: «Du, wo isch din Becher? Mer müend do no lääre!»