Laufenburg
«Wie Gegenstände behandelt:» Laufenburgerin dokumentiert das Leid der Schweizer Verdingkinder

Die Fricktaler Erziehungswissenschafterin Astrid Bieri arbeitet in ihrem 260 Seiten starken Buch das Verdingkinderwesen in der Schweiz auf. Sie hat dafür fünf Männer interviewt, denen die Kindheit mit behördlichem Segen geraubt worden war. Ihre Berichte haben die Forscherin sehr aufgewühlt.

Peter Schütz
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Astrid Bieri leistet mit ihrem Buch einen Beitrag zur Aufarbeitung des über 100 Jahre dauernden Verdingkinderwesens in der Schweiz.

Astrid Bieri leistet mit ihrem Buch einen Beitrag zur Aufarbeitung des über 100 Jahre dauernden Verdingkinderwesens in der Schweiz.

Peter Schütz

Ein Junge steht auf einem Feld in einer Landschaft, die überall sein könnte. Sein Blick ist geradewegs auf die Kamera gerichtet, in der Hand hält er ein Werkzeug mit einem langen Stiel, hinter ihm ist ein gepflügter Acker zu erkennen. «Bei der Feldarbeit, Oberbipp, 1940» heisst die Aufnahme, die der Schweizer Fotograf Paul Senn geschossen hat.

Das Motiv, das Aussehen des Jungen, spricht Bände. Ein Kind, das nicht in der Schule lernt oder Fussball spielt, sondern harte Arbeit verrichtet – heute undenkbar, bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz üblich. Das Foto von dem Jungen ist auf dem Umschlag des Buches «Kindheit in Knechtschaft: Verdrängen oder anerkennen?» von Astrid Bieri abgebildet.

Dozentin an der Pädagogischen Fachhochschule Nordwestschweiz

Seit fünf Jahren arbeitet sie als Dozentin an der Pädagogischen Fachhochschule Nordwestschweiz (FNHW), ihren Wohnsitz hat sie in Laufenburg. Dort nahm sie 1993 ihre erste Anstellung als Lehrerin einer Kleinklasse an und liess sich zur schulischen Heilpädagogin ausbilden. Mit der Einführung der integrativen Schule arbeitete sie integrativ in den Klassen mit den Lehrpersonen zusammen.

«Als meine Kinder grösser geworden sind, wollte ich nicht weitere 20 Jahre in der Schule unterrichten», blickt sie zurück. Es folgte das Studium in Erziehungswissenschaften an der Universität Basel sowie an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Für ihre Masterarbeit befragte sie einen ehemaligen Kleinklassenschüler und eine ehemalige Kleinklassenschülerin, dies mit Blick auf die Integration von Schulkindern von Klein- in Regelklassen.

Zu der Zeit waren die Verdingkinder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. «Von ihnen wusste ich von klein auf», blickt Astrid Bieri, in Bern und Langenthal aufgewachsen, zurück. Aber sie sagt auch:

«Ich war erstaunt und irritiert, wie wenige davon gewusst haben und dass es plötzlich einen Hype gab.»

Den «Hype» löste möglicherweise der Film «Der Verdingbub» von Markus Imboden 2011 aus. Zwei Jahre später entschuldigte sich der Staat in Person der damaligen Justizministerin Simonetta Sommaruga für das «Versagen der Behörden» und für das Leid, das den Betroffenen angetan wurde.

Dieses Leid dokumentiert Bieri in ihrem 260 Seiten starken wissenschaftlichen Buch mit Aussagen von fünf Männern, denen die Kindheit mit behördlichem Segen geraubt worden war. Die Männer traf Bieri persönlich, nachdem sie ihr Projekt dem Verein netzwerk-verdingt vorgestellt hatte.

Gespräche auf bis zu je 50 Seiten dokumentiert

Die Gespräche dokumentierte sie auf bis zu je 50 Seiten. Im Zeitraum zwischen 2015 und 2020 schrieb sie eine Dissertation zu diesem Thema und promovierte am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Basel. Die Dissertation veröffentlichte sie 2021 im Verlag Julius Klinkhardt in Bad Heilbrunn.

Im Kern geht Bieri der Frage nach, wie sich die Lebensverläufe ehemaliger Verdingkinder nach einer Kindheit unter prekären Vorzeichen entwickelten und wie diese ihre Erlebnisse verarbeiteten. Die Autorin leistet damit einen Beitrag zur Aufarbeitung des über 100 Jahre dauernden Verdingkinderwesens in der Schweiz, indem sie nicht nur das Leid, das Tausende von Kindern ertragen mussten, sondern auch deren Entwicklungschancen und Stärken aufzeigt.

Kinder wurden misshandelt und mussten schwer arbeiten

Die Erinnerungen der fünf in dem Buch zu Wort kommenden Männer können unter die Haut gehen. Aus armen Verhältnissen stammend, waren sie Misshandlungen ausgesetzt, mussten schwere Arbeit verrichten. Es mangelte ihnen an Fürsorge, sie hatten nichts zu sagen, kein Mitbestimmungsrecht.

Der Begriff «Verdingkinder», das macht Astrid Bieri in ihrem Buch deutlich, kommt nicht von ungefähr. Sie erklärt:

«Ein Ding ist ein Gegenstand und so sind die Kinder auch behandelt worden.»