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Die Kirchenglocken werden in Gipf-Oberfrick auch in Zukunft den Tag um 6 Uhr einläuten: Der Gemeinderat hat die Lärmklage von Nancy Holten gegen das mehrminütige Morgengeläut abgewiesen.
Die gebürtige Holländerin, die mit ihren drei Kindern seit fünfeinhalb Jahren im Dorf lebt, will die Klage nicht weiterziehen. «Ich akzeptiere den Beschluss, lasse es aber offen, ob ich das Thema wieder einmal aufgreifen werde», erklärte die 40-Jährige gegenüber der az. Enttäuscht sei sie nicht, so Holten, «ich habe mit einem abschlägigen Entscheid gerechnet», auch, «weil die Gemeinde recht traditionell unterwegs ist».
Die Tradition ist auch eine der Begründungen im vierseitigen Gemeinderatsbeschluss, der der az vorliegt. Eine «überwiegende Mehrheit der Bevölkerung» akzeptiere das morgendliche Geläut, ergo bestehe ein «öffentliches Interesse» an der Aufrechterhaltung desselben. Zudem gehöre es zu den Grundsätzen eines Rechtsstaates und einer Demokratie, «dass Traditionen, die von einer Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert werden, nicht durch Einzelpersonen oder kleine Minderheiten, die sich daran stören, abgeschafft werden können». Kurz: Das öffentliche Interesse sei höher zu werten als das individuelle Bedürfnis nach Ruhe einiger weniger.
Mit der «christlichen Tradition» argumentiert auch die katholische Kirchgemeinde, die zur Klage schriftlich Stellung nahm. Das Morgengeläut begrüsse den Tag, lade zum Morgengebet ein, sei ein Stück Heimat und mache das Dorf lebenswert. Der Zweck der Glocken sei es zu läuten, und deshalb sei das Geläut ein «gewünschter Lärm».
«Lärm ist doch negativ belastet», kontert Holten, «ich weiss beim besten Willen nicht, wie Lärm ‹gewünscht› sein kann.» Was ihr ebenfalls sauer aufstösst, ist der Verweis im gemeinderätlichen Schreiben auf die «lediglich drei weiteren unterstützenden Unterschriften». Sie habe bewusst darauf verzichtet, mehr Unterschriften zu sammeln und einzureichen, «weil ich erlebt habe, wie man unter Beschuss gerät».
Davor wollte sie andere schützen. Die drei Personen, die sie der Gemeinde nachträglich gemeldet hatte, wollten dies so. «Die anderen Unterschriften habe ich nicht nachgereicht.» Insgesamt hätten «mehr als ein Dutzend» Gipf-Oberfricker den Unterschriftenbogen unterzeichnet.
Für die eigentliche Lärmbeurteilung nahm die Gemeinde Mitte Januar um 6.01 Uhr Messungen vor. Diese ergaben direkt beim Glockenturm Werte zwischen 75 und 78 Dezibel (dB). Beim Mehrfamilienhaus, in dem Holten wohnt und das rund 200 Meter Luftlinie von der Kirche entfernt liegt, zeigte das Messgerät Werte zwischen 52 und 55 dB. Da nun die Lärmschutzverordnung ab 6.00 Uhr den Tageswert anwendet und dieser bei 60 dB liegt, «sind die Grenzwerte nicht überschritten». Anders wäre es zwei Minuten früher – der «Nachttarif» liegt bei 50 dB.
Aber auch dieser Wert wäre für das Glockengeläut nicht 1:1 verbindlich. Besagte Werte, so schreibt der Gemeinderat, gelten primär für den Arbeits- und Strassenlärm, also für nicht gewollten Lärm, unter den das Glockengeläut laut Gemeinderat nicht fällt. Denn es gebe Geräusche wie «das Läuten von Kirchen- und Kuhglocken», die «den Zweck einer bestimmten Aktivität ausmachen». Werden diese Geräuschemissionen verboten, können sie ihren Zweck nicht mehr erfüllen. Es sei auch nicht möglich, die Lautstärke wesentlich zu drosseln, «ohne dass zugleich der Zweck der sie verursachenden Tätigkeit vereitelt würde». Auch hier nimmt der Gemeinderat eine Interessenabwägung vor – zugunsten der Glocken.
Anders als Nancy Holten legt der Gemeinderat auch das Polizeiregelement aus. Dieses sieht vor, dass zwischen 22 und 6.30 Uhr «das Erzeugen jeglichen Lärms, der die Nachtruhe stört, verboten» ist. Für den Gemeinderat fällt das Glockengeläut ebenso wenig unter das Lärmverbot wie etwa der Strassen- oder der Eisenbahnlärm. Das Glockengeläut werde im Polizeiregelement nicht explizit erwähnt – wohl deshalb, so vermutet der Gemeinderat, weil es der Gesetzgeber «nicht als Lärm im herkömmlichen Sinn beurteilt». Das Geläut könne auch von seinem Klang und den «eingeschränkten Betriebszeiten» her nicht mit Arbeitslärm gleichgesetzt werden.
Zudem, so nimmt der Gemeinderat die Argumentation der Kirchgemeinde auf, habe das Morgengeläut ja zum Ziel, den Tag einzuläuten und zur Besinnung aufzurufen. «Es kann diesen Zweck nicht erfüllen, wenn es erst erklingen dürfte, wenn viele Leute bereits unterwegs zur Arbeit oder am Arbeitsort sind.»
Ebenfalls «nicht nachvollziehbar» ist für den Gemeinderat, wie das «wenige Minuten dauernde Glockengeläut», das die Immissionsgrenzwerte des Verkehrs nicht erreiche, «als unerträglich oder gesundheitsschädigend» beurteilt wird, wie das Holten in ihrer Klage tat.
Holten ihrerseits findet die Lärmargumentation des Gemeinderates wenig nachvollziehbar und «voller Widersprüche». Das Argument mit der Tradition hält sie für «recht dürftig» und den Verweis, dass sie seit Oktober 2009 in Gipf-Obefrick lebe, in dieser Zeit zweimal umgezogen sei und «bei ihren Umzügen wissen musste, wie sich das Glockengeläut auswirken würde», für daneben. «Ich konnte mir die Wohnung nicht nach der Glockenlautstärke aussuchen, sie musste vor allem auch erschwinglich sein».
Ein Um- oder gar Wegzug aus Gipf-Oberfrick kommt für die bekennende Veganerin trotz den zum Teil bitterbösen Reaktionen aus dem Dorf nicht infrage. «Ich fühle mich hier zu Hause.»
Etwas «Gutes» hat der «Schuss in den Ofen», wie Holten die Klageabweisung im Gespräch einmal nennt, immerhin: Sie spart ihr Geld. Hätte die Gemeinde nämlich ihre Klage gutgeheissen, wäre die 40-Jährige schnurstracks mit einem Strauss weisser Blumen auf die Gemeindekanzlei marschiert, «um der Gemeinde für ihre Offenheit und ihren Veränderungswillen zu gratulieren». So aber bleibt das Geld im Topf – und ihr morgens um 6 Uhr ein täglicher Glockengruss: heiliger Bimbam.
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