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Viele junge Fricktalerinnen und Fricktaler leiden in der Coronakrise unter fehlenden Sozialkontakten. Gleichzeitig hat die Pandemie sie politisiert – und sie hoffen auch dank Corona auf nachhaltige Veränderungen in der Gesellschaft.
In der Coronapandemie stehen meist ältere Menschen im Fokus, weil sie besonders gefährdet sind. Doch auch die Jungen leiden unter Corona, weniger körperlich, aber umso mehr psychisch. Ihnen fehlen die sozialen Kontakte, ihnen fehlt eine Perspektive. Das zeigt die Umfrage der AZ unter jungen Fricktalerinnen und Fricktalern deutlich.
Marc Kaufmann sagt: «Viele meiner Freunde leiden aktuell an phasenweisen Depressionen. Vor allem auch, weil die Perspektive und die Aussicht auf eine baldige Besserung fehlt.» Kaufmann ist 21, studiert in Zürich Jura und präsidiert die SVP Stein.
Politisch hat Melanie Holle zwar das Heu nur selten mit Kaufmann auf der gleichen Bühne – die 20-Jährige aus Zeiningen studiert Pädagogik und ist im Vorstand der Jungen Grünen –, doch auch sie sagt: Die fehlende Zukunftsvision schlage vielen Jungen auf die Psyche.
Hat die Coronakrise aus Ihrer Warte junge Menschen vermehrt politisiert?
Melanie Holle: Ja, definitiv. Mich persönlich und auch viele Menschen, mit denen ich mich in der Partei oder im Klimastreik unterhalten habe, hat die Coronakrise vermehrt politisiert. Die Coronakrise hat uns erneut gezeigt, wer diejenigen sind, welche unsere Gesellschaft tragen und wer auch jetzt wieder vor dem finanziellen Aus steht. Es hat vor allem jungen Menschen gezeigt, dass alle Berufe wichtig sind, wir allen Wertschätzung entgegenbringen müssen und wir alles tun müssen, um die sozial und finanziell Benachteiligten zu unterstützen. Aus diesem Grund haben sich die jungen Grünen Schweiz entschieden, die Systemchange-Initiative ins Leben zu rufen. Wir wollen nicht zurück zur Normalität, wie sie war, sondern diese Krise nutzen, um eine nachhaltige Gesellschaft aufzubauen.
Marc Kaufmann: Gerade die Jugend wurde durch die Coronakrise definitiv verstärkt politisiert. Denn Krisen bewegen die Gemüter und diese münden in der Politik. Dies habe ich insbesondere in meinem Studiumskreis bemerkt, da sich unsere Diskussionen aktuell hauptsächlich um die Massnahmen des Bundesrates drehen. Dies gerade auch im Hinblick auf deren verfassungsmässige Zulässigkeit. Zudem steht auch das Impfen und ein mögliches Impfobligatorium stark im Zentrum unserer Gesprächsthemen und viele befürchten eine Diskriminierung, falls sie sich nicht impfen lassen.
Wie erleben Sie gleichaltrige Menschen in der Pandemie?
Holle: Ich erlebe zwei Seiten, einerseits jene, die sich hoffnungsvoll geben und versuchen, an den kleinen Dingen ihre Freude zu finden. Andererseits kenne ich auch vor allem junge Leute, denen die fehlende Zukunftsvision und das Sich-ausgeliefert-Fühlen stark auf die Psyche schlägt. Allen gemeinsam ist es jedoch, dass sie sich vom Bundesrat und von den ihn beratenden Expertinnen und Experten vergessen fühlen.
Kaufmann: Viele meiner Freunde leiden aktuell an phasenweisen Depressionen. Vor allem weil die Perspektive und die Aussicht auf eine baldige Besserung fehlt, fällt es der Jugend sehr schwer, die Situation noch länger auszuhalten. Ferner fehlt es an einer geregelten Tagesstruktur wegen des digitalen Unterrichts. Durch den Wegfall jeglichen Ausgleichs am Wochenende ist es schwer, die Work-Life-Balance beizubehalten.
Was fehlt den Jungen aktuell am meisten?
Holle: Eine Perspektive. Die Zahl derjenigen, die aufgrund der aktuellen Situation ihre Lehre abbrechen mussten oder schon gar keine mehr finden, wird immer grösser. Auslandsaufenthalte werden abgesagt und das Studium beginnt zu Hause vor dem Bildschirm. Von aussen betrachtet mag das in einer Pandemie schnell als Luxusprobleme und sinnloses Rebellieren der Jugend angesehen werden, doch ich sehe es als Hilferuf, endlich wieder gesehen werden und unterstützt werden zu wollen.
Kaufmann: Vielen Jungen fehlt das Nachtleben, was man auch an den Ausschreitungen in St. Gallen erkennen konnte. Ein solches Verhalten unterstütze ich keineswegs. Dennoch finde ich es verständlich, dass sich die fehlende Freiheit in Frust und Wut entlädt.
Was vermissen Sie selber am meisten?
Holle: Ich persönlich treffe meine Grosseltern schon seit einem Jahr nicht mehr ohne Maske und habe sie auch seither nicht mehr umarmen können. Es schmerzt mich trotz trauriger Blicken meiner Grossmutter immer wieder verneinen zu müssen und sie an die Wichtigkeit ihrer Gesundheit zu erinnern.
Kaufmann: Den sozialen Kontakt zu Gleichaltrigen – beispielsweise an der Universität. Das Lernen wird durch den extrem verminderten Austausch zusätzlich erschwert. Gerade auch das fehlende Feierabendbier im BQM, unserer Studentenbar, und die intensiven Diskussionen, welche wir dort immer hatten, vermisse ich sehr.
Man hört immer wieder einmal: Die Jugend verpasst durch den Lockdown wichtige Zeiten der Freiheit. Stimmen Sie diesem Befund zu?
Holle: Ja, ich stimme dem zu. Ich finde jedoch, dass man hier klar differenzieren muss: Handelt es sich um die Freiheit, jedes Wochenende in einem Nachtclub Party zu machen, oder handelt es sich um jene, sich im Alter von vierzehn keine existenziellen Gedanken machen zu müssen und eine Perspektive zu haben, einen Zufluchtsort, wenn zu Hause Gewalt vorherrscht.
Kaufmann: Natürlich geht viel Freiheit und Freizeit verloren. Wenn ich mein Leben mit dem vergleiche, was es früher war, liegen dazwischen Welten. Wenn ich dieses Leben früher nicht gehabt hätte, hätte ich wohl eine wichtige Zeit verpasst. Das tut mir vor allem für diejenigen leid, die noch ein paar Jahre jünger sind.
Für wie wichtig halten Sie die aktuell beschlossenen Öffnungsschritte mit Blick auf die junge Generation?
Holle: Ich denke, Frau Keller- Sutter hat Wort gehalten, als sie sagte, sie werde die Jugend in Betracht ziehen. Vor allem die Öffnung von Freizeitsport und Theatern für über 18-Jährige halte ich für sehr wichtig. Diese Orte bieten gleichzeitig einen dringend nötigen Ausgleich zum Schulalltag, aber auch einen Zufluchtsort bei familiären Problemen.
Kaufmann: Die beschlossenen Öffnungsschritte sind ein Schritt in die richtige Richtung. Jedoch wäre es für die jüngere Generation wichtig, eine Perspektive zu haben, dadurch würde auch die Wut in Hoffnung umgewandelt werden.
Was erwarten Sie von der Politik bezüglich weiterer Schritte?
Holle: Ich erwarte, dass man weiterhin vorsichtig bleibt und endlich das wichtige Geld für die leidenden Branchen spricht. Gerade die Gastrobranchen leiden stark und sind auch jene, die ihr Lehrstellen- und Nebenjobangebot drastisch kürzen mussten, da das versprochene Geld bei vielen bis heute nicht oder zu spät angekommen ist. Weiter ist es mir wichtig, dass sich die Schweiz mit ihrer Stellung als Vorreiterland für eine gerechte Verteilung der Impfstoffe auch international einsetzt.
Kaufmann: Auch wenn ich kein Experte bin, würde ich mir erhoffen, dass man der jüngeren Generation, welche ja kaum gefährdet ist, weitergehende Freiheiten gewährt. Es müsste dazu verstärkt zwischen gefährdeten und ungefährdeten Personengruppen differenziert werden.
Wie beurteilen Sie die bisherige Coronapolitik?
Holle: Ich beurteile sie bisher als souverän mit kleinen Fehltritten. Ich denke, wir können uns mit unserer Regierung sehr glücklich schätzen. Wir hatten noch nie eine Ausgangssperre, noch nie wurde uns der Zugang zum Lebensnotwendigen verwehrt und auch der Kollaps der Spitäler wurde weitgehend verhindert. Natürlich hat der Bundesrat Fehler gemacht. Wie bereits erwähnt, fehlt in meinen Augen nach wie vor die Unterstützung der Gastrobranche und ein altbekanntes Problem manifestiert sich auch jetzt wieder: Dem Pflegepersonal und allen Systemrelevanten ist mit ein paar Mal Klatschen noch lange nicht gedankt. Es braucht dringend eine angemessene Bezahlung all jener, die besonders in den Krisen, aber eigentlich immer, unser Wirtschaftssystem am Leben erhalten.
Kaufmann: Die bisherige Coronapolitik ist aus meiner Sicht sehr fraglich. Eine reine Orientierung anhand der Intensivbetten zur Massnahmenbeurteilung wäre meiner Meinung nach zielführender. Dies alleine hätte jedoch nicht ausgereicht. Bereits seit Beginn der ersten Welle kann ich nicht nachvollziehen, wieso Bundesbern nicht auf den Ausbau der Intensivbetten und das Ausbilden von zusätzlichem Krankenpersonal gesetzt hat. Die Unsummen, welche dem Lockdown zum Opfer gefallen sind, hätte man in den Ausbau des Gesundheitswesens und für zusätzliche Fachkräfte aufwenden sollen. Denn so wäre die Wirtschaft nachhaltig gefördert worden.
Wurde für die Jungen genug getan?
Holle: Nein. Ich denke, ich spreche für eine Mehrheit, wenn ich sage: Der Bundesrat mit allen Beteiligten hat die Jungen im Stich gelassen. In meinen Gedanken sind vor allem jene, die keine Familie haben, die sie in dieser Krise unterstützt, vielleicht sogar eine Familie, die sie psychisch oder physisch misshandelt und vor der sie nun keinen Zufluchtsort mehr hatten. Diese Kinder und Jugendlichen geraten oft und besondern in dieser Krise in Vergessenheit und sie verdienen es, gesehen zu werden.
Kaufmann: Es ist schwer, auf die Jugend zuzugehen. Denn diese will ihre Jugend leben und die Jugend ist der Inbegriff von Freiheit und dieser Begriff wiederum steht mit der Coronakrise im direkten Konflikt. Zudem wurden wir in der Diskussion total übergangen und unser Leiden wurde kaum miteinbezogen. Während jüngere Kinder wieder zur Schule gehen können, verbringen wir bereits über ein Jahr alleine zu Hause vor unserem Bildschirm.