André Leclerc erkrankte mit knapp drei Jahren schwer und verlor sein rechtes Auge - trotzdem hat er den Durchblick behalten.
Anfang Oktober 2001. Die Schweiz steht unter Schock. Am 2. Oktober bleiben sämtliche Swissair-Maschinen am Boden. Das Geld ist alle. Das Nationalsymbol wankt. Und fällt.
Anfang Oktober 2001. Familie Leclerc steht unter Schock. Der weisse Fleck im rechten Auge von Sohn André, knapp drei Jahre alt, entpuppt sich als bösartiger Tumor. Das Auge wankt. «Fällt» es? Und vor allem: Hat André eine Chance?
Heute sagt Mutter Conny Leclerc, 45, über diese Zeit: «Gleichzeitig mit dem Swissair-Grounding groundete auch André mit seinem Auge.» Damals war ihr nicht um Sprüche zu Mute.
Rückblick. Im Frühling 2001 fällt der Mutter auf, dass ihr Sohn, damals gut zwei Jahre alt, die Treppe im Wohnhaus partout nicht selber hinuntergehen will. «Ich dachte, er sei einfach zu bequem», sagt sie. Auch dem winzig kleinen, weissen Punkt im Auge misst die Familie damals noch keine Bedeutung zu.
Spätsommer 2001. Der Punkt wächst, rasant, mäandert über die Pupille, breitet sich aus, wie ein Tintenfleck auf einem Fliesspapier. Conny Leclerc und ihr Mann sind beunruhigt. Anruf beim Augenarzt in Basel. Frühestens in drei Wochen könne man vorbeikommen, bescheidet ihr die Praxisassistentin. Conny Leclerc ist irritiert, erzählt dem Kinderarzt, bei dem sie mit André ohnehin einen Termin hat, vom weissen Punkt im Auge. Dieser wird sofort hellhörig, macht einen 3-D-Test mit André. Vor einem halben Jahr hatte André diesen noch bestanden. Jetzt nicht mehr. Es ist Freitag, der 19. Oktober 2001.
Am selben Abend klingelt bei Familie Leclerc das Telefon. Er wolle sie nicht beunruhigen, sagt der Kinderarzt, aber der Fleck könnte ein Tumor sein. Nun geht es schnell. Montag: Augenarzt; Dienstag: erste Narkosebesprechung; Mittwoch: Augenultraschall im Augenspital; Freitag: Onkologie im Kinderspital und MRI im Unispital; Samstag: Gespräch mit dem zuständigen Onkologen und dem Augenarzt im Kinderspital in Basel; Montag: Gespräch mit dem Prothetiker, Dienstag: Pause; Mittwoch: Operation im «Hôpital ophtalmique» in Lausanne.
Stunden dauerte der Eingriff im «Hôpital opthalmique» in Lausanne. Für Mutter Conny Leclerc waren es vier lange und einsame Stunden: Niemand kam zu ihr und informierte sie, wie es steht; niemand war da, der si betreute, der sie tröstete. «Ich fiel zwischen Stuhl und Bank.» Dann die erlösende Nachricht: Die Operation ist gut verlaufen, die Ärzte haben den ganzen Tumor erwischt. Das Auge allerdings war nicht zu retten.
Lausanne? «Die Operation führten damals nicht viele Spitäler durch», sagt Conny Leclerc. «Wir hatten die Wahl zwischen Lausanne und Essen.» Für Lausanne entscheidet sich der Arzt, da die Klinik mit Paris kooperiert und Paris mit dem französischen Teil von Kanada zusammenarbeitet. «Das Know-how war grösser als im deutschsprachigen Raum.»
Das Know-how war wichtig, denn das Retinoblastom, ein bösartiger Tumor in der Netzhaut, der meist bei Kleinkindern unter fünf Jahren auftritt, ist selten. Auf 20 000 Geburten kommt ein Krankheitsfall. In der Schweiz gibt es somit rund vier Fälle pro Jahr. Dem Tumor liegt eine genetische Veränderung der Netzhautzellen zugrunde, was bedeutet: Ist ein Auge erkrankt, besteht die Gefahr, dass sich auch im anderen Auge ein Tumor bildet. Das Erkrankungsrisiko nimmt zwar im Erwachsenenalter ab. Eine Hypothek aber bleibt. Lebenslang.
Mittwoch, 31. Oktober 2001, 13 Uhr. André kommt in den OP. Ob der Tumor (und mit ihm das Auge) entfernt werden kann, ob er nach der Operation eine Bestrahlung oder Chemotherapie braucht, kann zu diesem Zeitpunkt niemand sagen. Die Mutter wartet in der Cafeteria, der Vater harrt zu Hause aus, wo er die beiden anderen Kinder hütet. «Es waren schlimme Stunden», sagt Conny Leclerc heute.
Einsame Stunden auch. Niemand kam zu ihr und informierte sie, wie es steht; niemand war da, der sie betreute, der sie tröstete. «Ich fiel zwischen Stuhl und Bank.» Dann, unverhofft, setzt sich eine Frau zu ihr – und preist ihr die Plexiglas-Augen aus dem eigenen Hause an. «Zu einem Zeitpunkt, da noch gar nicht klar war, ob das Auge entfernt wird oder nicht.» Conny Leclerc schüttelt den Kopf.
Mittwoch, 17 Uhr. Die Operation ist vorbei. Endlich. Conny Leclerc kann, nach einigem Hin und Her, zu ihrem Sohn in den Aufwachraum. Die schlechte Nachricht: Das Auge musste entfernt werden. Die gute: Die Ärzte erwischten den ganzen Tumor. Eine Chemo oder eine Bestrahlung waren damit nicht nötig. Heute ist die Mutter überzeugt: «Es war zwar brutal, dass André ein Auge verlor – aber ihm blieb damit viel erspart.»
Donnerstag, 10 Uhr. Man benötige das Zimmer, in dem André liege, erklärt eine Krankenschwester der perplexen Mutter. Sie packt André, packt seine Sachen – und wartet mit ihrem frisch operierten Sohn auf den Stühlen im Besucherzimmer mehrere Stunden, bis sie vom Götti von Andrés Bruder, der bis 15 Uhr in Lausanne zutun hatte und sich für die Heimreise anerboten hatte, abgeholt wird. «Lausanne war nicht einfach», bilanziert Conny Leclerc.
14 Jahre später. André Leclerc, 16, ein aufgeweckter junger Mann, Schalk spielt um seine Augen, das echte wie das gläserne, erzählt im Wohnzimmer vom Leben mit einem Auge. «Es belastet mich nicht, dass ich nur ein Auge habe», sagt der Bäcker-Lehrling. «Mich nervt nur, dass ich nicht alles machen kann.» Ballspiele beispielsweise. «Ich sehe den Ball nicht auf mich zukommen.» Oder wenn ihm jemand einen Gegenstand zuwirft. «Dann sage ich nur: Scherzkecks.» Denn fangen kann er den Gegenstand nur mit Glück: Das Distanzsehen ist mit nur einem Auge stark beeinträchtigt. André beschreibt es so: «Es ist wie TV-Schauen.» Will heissen: Er sieht alles nur zweidimensional. Probleme hat er damit keine. «Da ich das Auge als Kleinkind verloren habe, lernte ich von klein an, damit umzugehen.»
Mit ihm lernen es seine Schulkollegen. Die Mutter hatte anfangs Angst, dass André von den Mitschülern gehänselt werden könnte. Wurde er nicht. Im Gegenteil. Sein fehlendes Auge wurde zum Erkennungsmerkmal («der mit einem Auge»). Und zum Running-Gag: Kam ein Neuer in die Klasse, nahm André vor ihm das Auge raus. Zum Entsetzen des Neulings – und unter Gelächter der anderen. «Das war schon etwas fies», meint er beim Gespräch mit der az mit spitzbübischem Lachen.
Conny Leclerc schmunzelt mit. «André ging immer locker mit seiner Einschränkung um. Er wollte nie als Sonderfall behandelt werden.» Das tat sie auch nie. «Natürlich war ich anfangs wie auf Nadeln, wenn er mit einem Messer hantierte», erzählt sie. «Ich musste mir aber auch sagen: Ein Kind kann und darf man nicht in Watte einpacken.»
Das fehlende Auge bescherte André auch jede Menge Spitznamen. Einauge, Pirat, Matrose, Zyklop («das war der Schlimmste, der hat mich echt genervt»). Es machte ihn aber auch einzigartig – vor allem dann, wenn er das Glasauge nicht trug. Und das kam und kommt immer wieder vor, «denn ich habe oft keine Lust, es zu tragen».
Trägt André das künstliche Auge, sieht man kaum einen Unterschied; das Glasauge bewegt sich synchron mit dem gesunden Auge. Die Familie entschied sich für Glas statt Plexiglas, «weil der Tragkomfort für André deutlich höher ist», sagt Conny Leclerc. Ganz nebenbei kostet ein Glasauge mit rund 600 Franken fast fünfmal weniger als ein Plexiglasauge. Bei rund einem Auge pro Jahr, das André benötigt, «geht das ganz schön ins Geld». Auch wenn die IV die Kosten übernimmt: «Man muss ja nicht höhere Kosten generieren als nötig.»
«Wie es sich anfühlt?», wiederholt André die Frage, muss nicht lange überlegen (wohl auch, weil er die Frage schon tausend Mal gestellt bekam): «Wie wenn man einen Ring trägt. Mit der Zeit fällt er einem nicht mehr auf – bis man ihn bewegt, dann spürt man ihn für einen kurzen Moment wieder.»
Bei der Arbeit – er absolviert das zweite Lehrjahr bei der Bäckerei Kunz in Frick – trägt André das Glasauge nicht. Weil der Mehlstaub und der Zucker das Glasauge angreifen würden. Weil er es mindestens dreimal pro Tag auswaschen müsste. Und weil er eine Schutzbrille tragen müsste. «Das stinkt mir», sagt er frank und frei.
Anfangs nervte sich André auch, dass er bei jeder Kontrolle im Spital – diese fanden zuerst vierteljährlich statt, heute muss er einmal pro Jahr zum Check – als lebendiges Studienobjekt für die Assistenzärzte herhalten musste. «Heute stört es mich nicht mehr», sagt er. «Ich habe eine seltene Krankheit und wenn die jungen Ärzte an mir etwas lernen können, ist das sinnvoll.»
Conny Leclerc schaut ihren Sohn von der Seite an, lächelt. Man spürt ihren Stolz. Sie blättert in einem Album mit Kinderfotos, nimmt eines heraus, in dem noch nichts das Leben von André getrübt hat. Zusammen mit seinen beiden älteren Brüdern turnt er auf dem Sofa herum. «Ein Tumor entsteht schnell», sagt sie dann und rät (werdenden) Eltern: «Die Augen-Untersuchungen darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen.»
Das Retinoblastom ist eine seltene Krebserkrankung, die in der Netzhaut entsteht und fast nur bei Säuglingen und Kleinkindern vorkommt. Pro 20000 Geburten gibt es einen Krankheitsfall. Das Retinoblastom kann eines oder beide Augen befallen. Letzteres ist bei rund einem Drittel der Fall. Unbehandelt führt das Retinoblastom meist zum Tod. Die deutsche Kinderkrebsstiftung nennt drei Warnzeichen: eine weisslich-gelbe Färbung einer oder beiden Pupillen; Schielen oder Abnahme der Sehschärfe; Rötung oder Schwellung des Auges. Tritt eines oder mehrere dieser Symptome, die auch eine harmlose Ursache haben können auf, rät die Kinderkrebsstiftung, «so bald wie möglich einen Arzt zu konsultieren, um die Ursache zu klären.» (TWE)