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Der Laufenburger Bildhauer Erwin Rehmann wird in diesem Jahr 95. Ein Gespräch über Kunst, das Älterwerden, erfülltes Leben – und weshalb eine Figur im Rhein landete
Erwin Rehmann, 94, ist bestens gelaunt. «Nur hereinspaziert», sagt er und steuert seinen Rollator, seinen «Deux Chevaux», wie er ihn nennt, in Richtung Wohnzimmer. Er setzt sich in den Opastuhl («der ist nicht so tief»), zeigt auf den Rollator. «Das ist eine herrliche Erfindung. Ihm verdanke ich meine Mobilität.»
Kurze Pause. Erwin Rehmann kramt in den Erinnerungen. «Ihren Vater habe ich recht gut gekannt», fährt er fort. Bedächtiges Nicken. «Ein guter Mann», sagt er, lacht schelmisch. «Das Altersheim in Frick hat er massgeblich mitaufgebaut – und als künstlerischen Schmuck eine meiner Plastiken gewählt.»
Kurze Pause. Erin Rehmann blickt durch das Wohnzimmerfenster in den Skulpturengarten. Vor 15 Jahren hat er ihn angelegt und zugleich sein Atelierhaus zum Ateliermuseum erweitert. «Ein guter Entscheid», sagt er, sagt es mit einem Funkeln in den Augen. Von Müdigkeit keine Spur. Rehmann arbeitet noch täglich, liest, schreibt, fertigt Skulpturen an. Derzeit arbeitet er in der Werkstatt von Bildhauer Daniel Waldner in Kaisten an einer Paar-Figur. «Man wird erst älter, wenn man nichts mehr macht», ist er überzeugt. Da besteht bei ihm keine Gefahr: Zu seinen 95. Geburtstag plant er eine grosse Ausstellung – mit bekannten und noch nie gezeigten Werken.
Kurze Pause. Regula Laux, die administrative Leiterin des Museums, kommt vorbei. Nebenan, im Museum, dreht das Schweizer Fernsehen gerade einen Beitrag. Erwin Rehmann, einer der ganz Grossen in der Bildhauerszene, ist seit Jahren in allen Medien und auf allen Kanälen präsent. Dennoch ist er immer er selber geblieben, ist nie abgehoben.
Herr Rehmann, haben Sie einen Lieblingsort in Ihrem Skulpturengarten?
Erwin Rehmann: Für mich ist der Skulpturengarten ein Ganzes, eine in sich geschlossene Einheit. Es gibt deshalb nicht die eine Stelle, die mir besonders gefällt.
Was löst das Betrachten des Gartens in Ihnen aus?
Ich sehe in ihm eine Figur, die ich mit vielen Einzelteilen komponiert habe. Es ist ein Mosaik, das als Ganzes wirkt. Ich hatte das Glück, dass ich eine Parzelle, auf denen zwei Häuser vorgesehen waren, kaufen und den Skulpturenpark verwirklichen konnte.
Ist das Gelände Teil dieser Figur?
Natürlich. Nachdem ich das Land gekaufte hatte, bearbeitete ich es mit einem Traktor und verlieh ihm eine Form – ähnlich wie bei meinen frühsten, ungegenständlichen Skulpturen. Mir schwebte von Anfang an ein Rundgang vor, der den Besucher durch den Garten führt. Ich verteilte die Skulpturen auf dem Gelände so, dass jede den Raum bekam, den sie zum Atmen braucht.
Was bedeutet Ihnen der Skulpturengarten?
Er ist Teil meines Lebenswerks. (Lacht.) Als ich die Figuren im Garten verteilt hatte, zeigte ich die Komposition meiner Frau. Sie sagte: Das ist ganz schön so, aber alle Figuren sind etwa gleich gross. Es fehlt das dominierende Moment.
Sie gaben ihr recht?
(Schmunzelt.) Natürlich, ich habe mich doch nicht mit einer Frau angelegt. Ich ging in die Werkstatt, fertigte den 5,4 Meter hohen «Ruf» und stellte ihn zuoberst auf die Kuppe.
Wieso auf die Kuppe?
Eine hohe Figur gehört nicht ins Tal, sondern auf den Kulminationspunkt – wie die Kirche. Der «Ruf» war, so stellte ich schnell fest, mit seiner Grösse etwas alleine. Ich stellte ihm deshalb noch die eine oder andere höhere Figur zur Seite.
Haben Sie zu einer der Figuren einen speziellen Bezug?
(Überlegt lange.) Vielleicht zum «Ruf», weil er so dominant ist und weil er meine allererste Grossfigur war. Er geht auf eine Kleinplastik zurück, die ich 1951 angefertigt habe.
Treten Sie in Dialog mit Ihren Figuren?
Jede Figur basiert auf einem Dialog, so auch das Paar, das ich gerade jetzt in der Werkstatt von Daniel Waldner anfertige. Die Figur habe ich vor vielen Jahrzehnten bereits einmal gemacht, doch irgendetwas in mir sträubte sich, sie zu vollenden. Sie stand lange in der Werkstatt herum, während ich an anderen Skulpturen arbeitete. (Lacht.) Irgendwann ärgerte es mich so sehr, dass ich die Figur nie fertig mache, dass ich sie nahm – und in den Rhein warf.
Sie werden in diesem Jahr 95 – und sind noch voll im Element. Hält Sie das Arbeiten jung?
Man wird erst älter, wenn man nichts mehr macht. Ich bin auch heute noch den ganzen Tag lang aktiv. Ich arbeite an meinen Skulpturen, schreibe, diskutiere über Kunst, lese. Manchmal denke ich selber: Du wirst jetzt 95; hört das denn nie auf?
Belastet Sie das Älterwerden?
Nein, man kann ja nichts dagegen tun. Ich nehme das Alter in Kauf. Natürlich ist nicht alles schön; dass ich nicht mehr gut zu Fuss bin, etwa. (Lacht.) Aber ich danke dem, der den Rollator erfunden hat. Er ist mein «Deux Chevaux», meine Hilfe.
Mit sehr vielen Pferdestärken sind Sie seit Ihrer Jugend in der Kunst unterwegs. Woher nehmen Sie all Ihre Inspiration, alle Ihre Ideen?
Sie sind einfach da, fallen mir zu. Sie sind aus meiner Lebenskraft geboren, sind Teil meiner Persönlichkeit. Diese verändert sich mit dem Leben. Es gibt im Leben nie eine Wiederholung.
Und in der Kunst? Gibt es da eine Wiederholung?
Nein, auch wenn ich zweimal die gleiche Skulptur mache – jede ist doch immer anders, hat ihr Eigenleben, hat einen anderen Ausdruck, eine andere Beschaffenheit.
Gab es in Ihrer langen Schaffenszeit einmal den Punkt, an dem Sie sagten. Jetzt bin ich müde, jetzt höre ich auf?
Nach der ersten Figur, der Frau mit der Kugel, an der ich fast ein Jahr arbeitete, stand ich da und dachte: So, jetzt bin ich fertig – und weiss nicht weiter. Ich stand da, schaute die Figur lange an und fragte mich: Was habe ich eigentlich gemacht?
Sie fanden eine Antwort?
(Lacht.) Ja, sonst wäre es wirklich die erste und letzte Skulptur gewesen. Beim Betrachten stellte ich fest, dass der Körper im Raum steht. Da wusste ich: Ich muss Raum in die Körper bringen – dann geht es weiter. So war es auch: Von diesem Moment an floss die Schaffenskraft.
Wie viel Ihrer Persönlichkeit steckt in den Figuren?
Viel. Kunst kann man nicht von der Person lösen, sie ist Teil des eigenen Ichs.
Das Ich verändert sich. Die Kunst mit ihm?
Man ist immer unterwegs – im Leben wie in der Kunst. Jede Figur ist ein Ende und ruft nach einem neuen Anfang. Man kann nur etwas Neues beginnen, wenn man das Alte abgeschlossen hat. Es braucht diesen Leerraum zwischen Ende und Anfang, um wachsen zu können, um mit neuem Erlebnis neue Einsichten in der plastischen Wahrheit finden zu können. Die Kunst ist ein stetes Weitergehen, ein Leben im Leben.
Ein Maler kann ein Bild übermalen, wenn er mit ihm nicht zufrieden ist. Was macht ein Bildhauer?
(Lacht.) Er versenkt sie eben im Rhein. Im Ernst: Ich fertigte sie anfänglich nicht direkt als Bronzeskulptur an, sondern in Ton und davon als Gipsabdruck. War ich damit nicht zufrieden, wanderte er in den Abfall.
Ein Loslassen ganz anderer Art ist es, wenn Sie eines Ihrer Kunstwerke verkaufen und es an einem anderen Ort aufgestellt wird. Fällt Ihnen das Loslassen schwer?
Nein, wenn ich weiss, dass die Skulptur an einen guten Ort kommt, fällt mir das nicht schwer. Wenn sie anderen Freude bereitet, dann freut mich das. Ich kann ja nicht alles bei mir aufstellen – sonst würde ich in einem Figurenwald leben, in dem die einzelnen Figuren zu wenig Luft zum Atmen bekommen – und ich mit ihnen.
Das Ateliermuseum bringt ein dauerndes Kommen und Gehen mit sich. Wurde Ihnen das nie zu viel?
Ich mag den Kontakt mit Menschen sehr. Ich lief ihnen allerdings nie hinterher, habe mich nie im Leben für eine Ausstellung beworben. Wenn mich jemand wünschte, machte ich mit. So kamen bislang an die 250 Ausstellungen auf der ganzen Welt zustande. Auch die allererste Ausstellung kam nur zustande, weil mich Adolf Reinle, einer der renommiertesten Kunsthistoriker der Schweiz, der das Kunsthaus in Luzern führte, 1953 dazu überredet hat. Ich hatte mir vorgenommen, zehn Jahre lang kein einziges Werk auszustellen, keines zu verkaufen, einfach nur für mich zu arbeiten. Sollte ich nach zehn Jahren immer noch Gestaltungsfreude und Realisationskraft haben – dann, so sagte ich mir, darfst du dich Bildhauer nennen. Adolf Reinle überzeugte mich von sich aus - im Nachhinein gesehen: Zum grossen Glück.
Was bedeutet Ihnen der Austausch mit Menschen?
Es ist immer eine Bestätigung, dass man nicht auf dem äussersten Zweig sitzt, sondern in einer Gemeinschaft lebt. Die Mitmenschen gehören zu einem, ohne sie wäre ich niemand. Im Zusammenspiel entsteht Leben, entstehen neue Werke.
Der Mensch interpretiert die Werke auch. Jeder sieht darin etwas anderes. Gibt es auch die Momente, in denen Sie denken: Der versteht nun ja gar nicht, was ich damit aussagen wollte.
Nein, denn jeder Mensch hat das Recht auf seine Sicht. Was ich sehe, ist immer nur ein Teil der Wirklichkeit. Ein anderer empfindet dieselbe Wirklichkeit ganz anders. Natürlich: Es gibt Menschen, die überhaupt keinen Sinn für die plastische Sprache haben. Da kann ich meine Intentionen noch so lange erzählen – er wird sie nie sehen. Nur wenn er die Figur in sich spürt, kann er in sie hineinsehen, kann sie in sich aufnehmen.
Stört es Sie, wenn jemand nicht sieht, was Sie mit der Figur darstellen wollen?
Eine Figur will nicht etwas darstellen, sie will nur sich selber sein. Die Figur muss in sich leben, aus sich heraus eine Kraft entwickeln, bis sie ein Ganzes ist.
Bei den Menschen gibt es zwei Grundtypen: den Erzähler und den Zuhörer. Zu welchem Typus zählen Sie sich?
(Lacht.) Ich bin ein Mischling. Für mich gehört beides zusammen. Das, was ich erzähle, habe ich bereits vorher empfunden. Manchmal fehlen mir die Worte, dann gehe ich auf die Suche nach ihnen. Einige Künstler sagen auch: Ich habe keine Worte, ich kann nichts zu meinen Kunstwerken sagen, die Kunstwerke sprechen für sich. Für mich dagegen gehört beides zusammen, was wohl auch darauf zurückzuführen ist, dass ich ursprünglich Lehrer war. Und die reden bekanntlich gerne.
Politiker nicht minder. Im Juli 2010 war der Gesamtbundesrat auf seinem «Schulreisli» bei Ihnen im Museum. Hörte er zu? Oder redete er immer dazwischen?
Als Bundesrat muss man auch zuhören können. Und das taten sie auch auf der gut einstündigen Führung durch das Museum. Einige Tage später bekam ich von Doris Leuthard, die damals Bundespräsidentin war, einen Dankesbrief zugeschickt. Das hat mich riesig gefreut.
Sie werden im November 95 Jahre alt. Sie haben Krisen, Kriege und Aufschwünge und Blütezeiten miterlebt. Welche Zeit hat Sie am meisten geprägt?
Jede Zeit prägt und führt einen ein Stück weiter. Was ich heute bin, ist die Summe aus all den Abschnitten, die vergangen sind. Das Leben ist wie eine Kette: Glied reiht sich an Glied; man kann kein Glied entfernen, ohne die Kette zu zerstören.
Ist das Leben heute einfacher als vor 50 Jahren?
Der Fortschritt hat sicher vieles vereinfacht. Er hat aber nicht nur Gutes gebracht. Ich persönlich hatte das Glück, dass mich Adolf Reinle förderte. So war ich schon als junger Künstler mit der ganzen Welt vernetzt. Meine Werke wurden ausgestellt und ich konnte immer wieder die eine oder andere Skulptur verkaufen.
Sie haben den Zweiten Weltkrieg im Aktivdienst miterlebt. Die Reihen derer, die damals im Dienst war, lichten sich zusehends. Stirbt damit auch das kollektive Gedächtnis an eine der schlimmsten Zeiten?
Die Erinnerung verblasst und das birgt schon eine Gefahr. Ich war knapp 20, als der Krieg ausbrach, und habe 1200 Diensttage geleistet. Das prägte mich. Der Krieg war ein massiver Eingriff ins Leben.
Was geben Sie einem jungen Menschen mit auf den Weg?
Jeder muss daran glauben, dass er einen Auftrag auf der Welt hat. Und sich gleichzeitig fragen: Was kann ich an diese Welt beitragen? Ein Leben ist dann erfüllt, wenn man das weitergegeben hat, was in einem als Lebenswahrheit aufging.
Was kann man weitergeben?
Bei jedem ist es etwas anderes. Der eine, wie ich, gibt Kunst weiter, ein anderer ein Lächeln, wenn er einen Menschen pflegt. Das, was jemand in seinem Innersten empfindet, kann nur er geben. Das ist seine Aufgabe. Wenn er das weitergibt, dann lebt er.
Heute ist Zeit (fast) alles. Was bedeutet Ihnen Zeit?
Zeit ist eine Möglichkeit, sich zu realisieren. Zeit selber ist etwas äusserst Instabiles. Sie ist immer schon vorbei, wenn man realisiert, dass sie ist. Im Zwischenraum zwischen Vergangenheit und Zukunft ist die Zeit, in der wir sind, eine Zeit, die wir erst als Zeit wahrnehmen, wenn sie schon verstrichen ist.
Gibt es auch Zeitverschwendung?
Sicher. Jeder empfindet es dabei anders, was gut genutzte und was verschwendete Zeit ist. Für mich wäre es Zeitverschwendung, stundenlang in Cafés zu sitzen oder stundenlang Fernsehen zu schauen.
Wann ist Zeit denn gut genutzt?
Wenn ich etwas realisiert habe, wenn ich künstlerisch kreativ war.
Was ist Ihr Wunsch für die Zukunft?
Ich habe keine Wünsche an die Zukunft. Ich möchte im November, wenn ich 95 Jahre alt werde, eine grosse Ausstellung mit meinen Werken realisieren, auch mit solchen, die ich noch nie gezeigt habe. Sie soll ein Zeitzeichen sein, soll zeigen, was lebendige Materie ist, soll zeigen, dass das Selbe nie dasselbe ist. Wiederholung gibt es nur in der Maschine.
Was ist für Sie Materie?
Materie ist der Urstoff von allem sinnlich Wahrnehmbaren dieser Welt. Sie ist die Basis allen Seins. Wenn sie sich bewegt, wenn sie im Menschen lebendig wird, dann wird dieser erst sich selber.
Eine gute Stunde dauert das Gespräch über Kunst und Leben, über Zeit und Älterwerden. Am Schluss begleitet Erwin Rehmann den Journalisten zur Tür. «Jetzt muss ich noch etwas arbeiten», sagt er noch.