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Die bald 84 Jahre alte Marta Hess erinnert sich gut an den Luftangriff vom Heilbronn vor 69 Jahren. Andere erstickten in Luftschutzkellern, sie überlebte. Noch heute fühlt sich für sie immer noch an, als wäre dieser vor Kurzem passiert.
«Es fühlt sich an, als wären seit dem Bombenangriff nur ein paar Wochen vergangen», sagt Marta Hess. Die bald 84-Jährige sitzt am Küchentisch in ihrer Alterswohnung in Bözen und erzählt: «Wegen des 2. Weltkriegs war die Schule geschlossen und wir Schüler halfen in der Landwirtschaft aus. So auch an jenem Montag, 4. Dezember 1944.»
Es ist bereits dunkel, als sich Marta zu Fuss auf den Heimweg nach Frankenbach, damals noch eine eigenständige Gemeinde und seit 1974 Teil der Stadt Heilbronn, macht. Noch liegt kein Schnee und das 14-jährige Mädchen denkt sehnsüchtig an die wunderschönen Schneesterne, als plötzlich die Sirenen zu heulen anfangen.
Der Fall ist klar: Akute Luftgefahr. Vom Himmel fallen Leuchtschirmchen, Marta ist verzaubert und läuft über die Brücke. Die Nacht wird zum Tag, eine spezielle Atmosphäre. Nur allzu gerne hätte sie noch ein bisschen mit dem drei Meter grossen Hüpfmann gespielt, den sie am Tag zuvor mit weisser Kreide für die kleineren Kinder auf die Strasse gemalt hatte. Zwei Arme hätte sie dieser Strassenzeichnung auch noch gegönnt.
Zeit reicht nicht mehr
Vom Hügel her ruft ihr der Vater zu. Marta beeilt sich. Für den kurzen Weg vom Haus zum gut eingerichteten Luftschutzkeller reicht die Zeit aber nicht mehr. Kaum steht die vierköpfige Familie zusammen, beginnt der Schrecken (siehe separater Text).
Bei einem englischen Fliegerangriff werden am 4. Dezember 1944 fast 7000 Menschen getötet und 80 Prozent des Heilbronner Stadtgebiets zerstört. Der Luftangriff der Royal Air Force beginnt um 19.18 Uhr mit dem Abwurf von Leuchtmarkierungen. Zum Einsatz auf britischer Seite kommen über Heilbronn insgesamt 283 Flugzeuge, die in 37 Minuten auf die Stadt und den Rangierbahnhof insgesamt 830 500 kg Sprengbomben und 430 300 kg Brand- und Markierungsbomben abwerfen.
Die Luftabwehr durch Flak besteht in Heilbronn nur aus Geschützen kleinen Kalibers, die gegen hoch fliegende Flugzeuge wirkungslos sind. Noch heute gedenken die Heilbronner jeweils am Jahrestag um 15 Uhr der Opfer auf dem Ehrenfriedhof. (AZ)
«Diesen vielen Flugzeugen hörte man die todbringende Fracht an», erinnert sich Marta Hess. Innert Sekunden bersten am Haus die Fensterscheiben, vom Dach fliegen Ziegel und in der Mauer entstehen Risse. «Es roch nach Angst, Tod und Krieg.» Und plötzlich ist dieser Geruch auch heute wieder da. Marta Hess kann sich nicht dagegen wehren. Während des Kriegs leidet sie deshalb oft an Übelkeit.
Nach 37 Minuten ist der Angriff vorbei, die Leuchtschirme sind erloschen und in der vier Kilometer entfernten Altstadt von Heilbronn breitet sich ein riesiger Flächenbrand aus, der die ganze Nacht wütet. Da die Wasserversorgung unterbrochen ist, bringen die Löschversuche kaum etwas. Wer fliehen will, riskiert, bei lebendigem Leib zu verbrennen. Tausende ersticken in den folgenden Stunden in den Luftschutzkellern.
Suche nach Überlebenden
Tage danach verlassen einige Überlebende die zerstörte Stadt. Ihr ganzes Hab und Gut ziehen die armseligen Stadtbewohner im Leiterwagen mit. Als am folgenden Wochenende Tante Gertrud mit den beiden Kindern nicht zu Besuch kommt, ahnt Martas Familie Schlimmes. Zusammen mit ihrem Vater, dem Gemeindepräsidenten von Frankenbach, macht sich Marta auf die Suche nach ihren Verwandten in der Heilbronner Innenstadt.
Ihre ängstliche Mutter, deren Vater später im Konzentrationslager Dachau stirbt, sowie die zwei Jahre jüngere Schwester hüten derweil das Haus in Frankenbach. Marta und ihr Vater laufen zum Theaterplatz. Tante Gertrud und Tante Anni mit ihren Kindern suchten dort im Luftschutzkeller des Theaters vergeblich Schutz. Sie alle fielen dem Bombenangriff zum Opfer. Marta erinnert sich, wie ihr die tote Cousine Irmgard besonders leidtat, weil die Kleine in dieser Kälte keine Schuhe mehr trug. Vater Paul Balbach tröstet Marta mit belegter Stimme: «Die Schuhe können nun einem lebenden Kind noch warm geben.»
Während des Kriegs schiebt Marta jeweils zu Hause Wache, wenn ihre Mutter heimlich unter der Wolldecke die BBC-News am Radio hört. Obwohl ihr Vater Gemeindepräsident war, hat er nie mit «Heil Hitler!» gegrüsst. Bei Kriegsende 1945 hängt Paul Balbach, der von der Bevölkerung sehr geschätzt wurde, sofort als Zeichen der Kapitulation ein weisses Leintuch am Rathaus in Frankenbach auf.
Seit 1953 in der Schweiz
Nach Lern- und Wanderjahren kommt Marta 1953 in die Schweiz, wo sie die Bäuerinnenschule besucht, und später mit ihrem Mann Walter in der Oberaargauer Gemeinde Madiswil einen landwirtschaftlichen Betrieb führte.
Seit 2012 wohnt die Witwe in einer neuen Alterswohnung im Dorfzentrum von Bözen, nicht weit von der Familie ihrer Tochter entfernt. «Ich habe noch immer Hemmungen zu sagen, dass ich eine Deutsche bin», sagt Marta Hess mit ihrem eigenen Berner Dialekt. Und wie hat die Erfahrung des Bombenangriffs in Heilbronn ihr Leben geprägt? Die vitale Rentnerin muss nicht lange überlegen: «Ich habe gelernt, umweltbewusst zu leben. Besonders froh bin ich, nicht mehr fürchten zu müssen, dass ein Flugzeug kommt und sinnlos irgendetwas zerstört.»